Ein Fall in den Disziplinarakten im Kärntner Landesarchiv (1918 – 1938) zeigt besonders deutlich die verwischten Grenzen zwischen dienstlichen und privaten Angelegenheiten bei öffentlich Bediensteten. Bemerkenswert ist auch die Wahl des Strafausmaßes: dienstlicher Ungehorsam seitens eines Untergebenen wiegt schwerer als Körperverletzung seitens eines Vorgesetzten. Der Fall betrifft zwei Bedienstete der Gailbauleitung – Bauleiter Alfred H. und Baurevident Franz R. Letzterer hatte den Auftrag, die sogenannte Schichtenliste fertigzustellen, damit die Arbeiter ihre Löhne zeitgerecht ausgezahlt bekommen, war diesem Auftrag aber nicht fristgerecht nachgekommen.

Aus dem Bericht R.s über den am 19. Mai 1924 zwischen ihm und H. „sich abgespielten Vorfall“: „Um 9 Uhr vormittags kam Herr Bauleiter in die Kanzlei und beauftragte mich, Nachmittag mit meinem Rade die Schichtenliste nach Rattendorf zu bringen (es waren 32 Arbeiter und 5 Fuhrleute mit einem Gesamtbetrage von rund 15 ½ Millionen Kronen abzurechnen) daher musste ich mich beeilen bis dorthin fertig zu werden, wurde aber durch andere dienstliche Anliegen des Bauleiters in der Arbeit unterbrochen.“

R. nahm um die Mittagszeit die noch unfertige Schichtenliste mit nach Hause um nach dem Mittagessen gleich nach Rattendorf weiterzufahren. Das Fahrrad hatte aber zwei Platte, daher konnte er die Fahrt nicht antreten. Nach Kanzleischluss machte er Erledigungen mit seiner Familie. Seine Frau wurde bei dieser Gelegenheit (ca. 18.30) von Bauleiter H. am Marktplatz angetroffen, der „in barscher Weise nach mir frug, ihr Vorhaltungen machte, dass niemand in der Wohnung anzutreffen sei und beauftragte, mir zu sagen, dass ich um 7 Uhr abends in den Gasthof Lasser kommen sollte.“

Das tat R. aber wohlweislich nicht: „Da Herr Bauleiter sich schon meiner Frau gegenüber so benommen hatte, was auch mich empören musste, weiters ich sein Naturell nur zu gut kenne, wollte ich mich im Gasthofe Lasser in Gegenwart der Tischgesellschaft keines Wutergusses aussetzen, weshalb ich nicht hinging und die Angelegenheit am nächsten morgen ihm vortragen wollte. Ganz besonders fühlte ich mich dadurch gekränkt, dass Herr Oberbaurat sich nun auch meiner Frau gegenüber dieselben Umgangsformen erlaube, wie mit mir.“

H. schickte sein Dienstmädchen zu R., dem mitgeteilt wurde, es solle seinem Herrn sagen, dass R. schon zu Bett gegangen sei. Später (ca. 21 Uhr) traf H. R. auf der Straße an, und schrie ihn schon von weitem an: „wo ist die Schichtenliste – worauf ich antwortete, dass dieselbe in der Kanzlei auf dem Tische liege. Dieser Ton, in welchem Herr Bauleiter mit mir verkehrte, konnte nur früher vereinzelt auf Rekrutenübungsplätzen gehört werden. Auf seine weitere Frage, warum ich nicht in den Gasthof Lasser gekommen bin, antwortete ich, dass ich mich seines Wutergusses, wie meine Frau schon eine kleine Kostprobe davon erhielt, nicht aussetzen wollte und übrigens für dienstliche Angelegenheiten die Kanzlei da ist, worauf er sich bemüßigt fühlte, mich zu ohrfeigen und darob noch nicht genug, mir sogar mit dem Spazierstocke einen ausgiebigen Hieb auf die linke Gesichtsseite knapp unter der Schläfe versetzte womit Herr Bauleiter mir eine blutende Wunde zufügte. Meine Verblüffung ob dieser Tätlichkeit vonseite meines Vorstandes war eine derartige, dass ich ausserstande war mich auch nur im geringsten zur Wehr zu setzen.“ H. war bei dieser Gelegenheit mit seiner Gattin unterwegs, R.s Gattin sah (so R.) durchs Fenster zu.

Was waren die Konsequenzen aus dieser Auseinandersetzung? Eine Klage R.s gegen H. wurde zurückgezogen nachdem H. sein Verhalten R. gegenüber bedauerte und außerdem die Anwaltskosten übernahm. R. war einverstanden (Erklärung vom 24.8.1924). Ein Disziplinarverfahren kam dennoch zustande, für R. wegen Nichtbefolgung eines Auftrages seines Vorgesetzten und wegen beleidigenden Benehmens gegenüber einem Vorgesetzten, für H. wegen wörtlicher und tätlicher Beleidigung eines Untergebenen.

Im Disziplinarakt werden Unstimmigkeiten darüber referiert, ob in der Auseinandersetzung das Wort „Schuft“ gefallen sei oder nicht (stattdessen vermutlich „schuftig“). H. behauptete, R. hätte ihn einen Schuft genannt, woraufhin er tätlich wurde, R. verneinte dies, schloss aber nicht aus, dass er H.s Benehmen als „schuftig“ bezeichnet haben könnte.

Das Erkenntnis der Disziplinarkommission fiel folgendermaßen aus: für H. eine Ausschließung von der Vorrückung in höhere Bezüge auf die Dauer eines halben Jahres, für R. die Ausschließung von der Vorrückung in höhere Bezüge für die Dauer eines Jahres. Als Begründung der Auswahl der Strafart wurde festgehalten, dass beide Vergehen so schwerwiegend seien, dass ein Verweis (wie von den Verteidigern gefordert) nicht hinreichend wäre. Daher wurde für beide der Ausschluss von der Vorrückung in höhere Bezüge verfügt. Erschwerend wertete die Kommission bei R., dass zwei Vergehen zusammenkamen: Verletzung der Gehorsamspflicht und Verletzung der Vorschriften über das Verhalten. Mildernd wurde bei beiden das Geständnis gewertet, bei H. außerdem die „Aufregung“.

Quelle: Kärntner Landesarchiv, Landesregierung: Präsidium, Disziplinarakten 1918 – 1938, Schachtel 814, H – L
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