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[An Felice Bauer]
[Prag, 1. Dezember 1912; Sonntag]

1. XI. 12

Liebste, nur paar Worte, es ist spät, sehr spät, morgen gibt es viele Arbeit, ich bin jetzt endlich bei meiner kleinen Geschichte ein wenig ins Feuer gerathen, das Herz will mich mit Klopfen weiter in sie hineintreiben, ich aber muß versuchen, mich so gut es geht aus ihr herauszubringen und weil das eine schwere Arbeit sein wird und Stunden vergehen werden ehe der Schlaf kommt, muß ich mich beeilen, ins Bett zu gehn.
Liebste, fast mein ganzer Sonntag hat Dir gehört mit allen seinen glücklichen und unglücklichen Gedanken. Wie rasch ist mir die Vorlesung des Eulenberg gleichgültig geworden, wie bald erfülltest Du mich wieder! Ich ging bald weg und mein einziger Spaziergang führte mich zur Bahn, wo ich den Brief einwarf. Liebste, noch habe ich Dich, noch bin ich glücklich, aber wie lange darf ich das sein? Ohne ein Fünkchen Mißtrauen zu Dir sage ich das, Liebste. Aber ich bin Dir im Wege, ich hindere Dich, ich werde doch einmal zur Seite treten müssen, ob früher oder später, wird nur die Größe meines Eigennutzes bestimmen. Und ich werde es niemals mit einem offenen und männlichen Worte tun können, scheint mir, immer werde ich dabei an mich denken, niemals werde ich, wie es mein Pflicht wäre, die Wahrheit verschweigen können, dass ich mich für verloren halte, wenn ich Dich verliere. Liebste, mein Glück scheint so nah, nur durch 8 Eisenbahnstunden von mir entfernt, und ist doch unmöglich und unausdenkbar.
Erschrecke, Liebste, nicht über diese Wiederkehr ewig gleicher Klagen, es wird ihnen kein Brief wie jener, der damals aus mir hervorgebrochen ist, folgen, ich muß Dich unbedingt noch einmal sehn und lange, möglichst lange, ohne dass Uhren die Zeit zumessen, mit Dir beisammen sein - wird es im Sommer möglich werden oder schon im Frühjahr? - aber es gibt Abende, wo ich so für mich klagen muß, denn schweigend leiden ist zu schwer.
Liebste, ich möchte gerne etwas Lustiges noch sagen, aber es fällt mir nichts Natürliches ein, auch weinen auf der letzten aufgeschlagenen Seite meiner Geschichte alle 4 Personen oder sind wenigstens in traurigster Verfassung. Aber um 10 Uhr kommt bestimmt ein lustiger Brief und für ihn verdiene ich schon jetzt einen Kuß. Mit ihm auf den Lippen gehe ich ins Bett.

[Auf einem einzelnen Blatt, vermutlich einem der Briefe vom 1. Dezember 1912 beigelegt]

Sei so freundlich, Liebste, und sieh einmal auf einer Anschlagsäule nach, ob nicht irgendwo die Juden spielen, vor allem unter welcher Adresse ein Brief meinen Löwy erreiche würde. Er hat mir nun wieder geschrieben voll Klage über sich und wegen meines Nichtschreibens auch über mich. Leider habe ich das Couvert verloren und weiß nun seine Adresse nicht.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at