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[An Felice Bauer]
[Prag, 2. Dezember 1912; Montag]
[Tschechischer Briefkopf der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt "Úrazová pojistovna delnická"]

2. XII. 12

Liebste, also das Wunder der gemeinsamen Zerstreutheit, unterstützt von postalischer Nachlässigkeit, ist Wahrheit geworden, Deinen für Sonntag bestimmten Brief habe ich erst jetzt im Bureau bekommen. Ein Brief von Freitag nacht, aus alter Zeit, hoffentlich ist alles gut gegangen. Du bleibst also Weihnachten in Berlin? Verwandte werden kommen, Besuche werden gemacht werden, man wird tanzen, man wird von Gesellschaft zu Gesellschaft fahren - und dabei willst Du Dich erholen? Da Du es doch so nötig hast und fremde Besucher Dein schlechtes Aussehn feststellen. Übrigens Samstag ist photographiert worden und ich werde bald sehn, wie arg es mit Dir steht.
Meine Weihnachtsreise ist noch zweifelhafter geworden, denn die Hochzeit meiner Schwester, die zwar im Familienkreise aber in einem sehr großen gefeiert wird, ist auf den 25. verlegt worden und droht mir, die ganzen vorhergehenden Weihnachtsferien zu stören. Aber auch Du hast Besuch, der mir wahrscheinlich Berlin versperrt, und wohin wollte ich sonst? Im übrigen bleibt noch Zeit und daher Hoffnung.
Wenn ich nur über Dein Befinden bessere Nachrichten bekäme! Du sahst doch an jenem Abend so frisch, rotbäckig gar und unzerstörbar aus. Ob ich Dich gleich lieb hatte, damals? Schrieb ich es Dir nicht schon? Du warst mir im ersten Augenblick ganz auffällig und unbegreiflich gleichgültig und wohl deshalb vertraut. Ich nahm es wie etwas Selbstverständliches auf. Erst als wir uns vom Tisch im Speisezimmer erhoben, merkte ich mit Schrecken, wie die Zeit verging, wie traurig das war und wie man sich beeilen müsse, aber ich wußte nicht, auf welche Weise und zu welchem Zweck. Aber schon im Klavierzimmer - Du liefst gerade Deine Schuhe holen - machte ich, am Ende gar zur Allgemeinheit, die blödsinnige Bemerkung: "Sie (damals hießest Du noch "sie") gefällt mir zum Seufzen" und dabei hielt ich mich am Tisch fest.
Wie weit ist von jenem Abend zu der Frage Deines Besuchers nach Deiner unglücklichen Liebe! Und da Erröten ein Bejahen ist, so bedeutete das Erröten in diesem Fall, selbst wenn Du es nicht wissen solltest, folgendes: "Ja, er liebt mich, aber es ist ein großes Unglück für mich. Denn er glaubt, weil er mich liebt, dürfe er mich plagen und dieses eingebildete Recht nützt er bis zum Äußersten aus. Fast jeden Tag kommt ein Brief, in dem ich bis aufs Blut gequält werde und dann allerdings ein zweiter, der den ersten vergessen machen will, aber wie könnte der vergessen werden? Immerfort redet er in Geheimnissen, ein offenes Wort kann man von ihm nicht erhalten. Vielleicht läßt sich das, was er zu sagen hat, gar nicht schreiben, aber dann soll er doch um Gottes willen überhaupt damit aufhören und schreiben wie ein vernünftiger Mensch. Er will mich gewiß nicht quälen, denn er liebt mich, das fühle ich, über alle Maßen, aber er soll mich nicht mehr so quälen und verhindern, dass mich seine Liebe unglücklich macht." Liebste Rednerin! Mein Leben ließe ich für Dich, aber das Quälen kann ich nicht lassen.

Dein Franz


Besuchers: Der Besucher war wahrscheinlich Max Brod, der Felice gegen Mitte November 1912 in Berlin aufgesucht hatte. Vgl. Max Brods Briefe vom 15. und 22. November 1912.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at