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[An Felice Bauer]
[Prag, 17. November 1912; Sonntag]

17. XI. 12

Liebste, Allerliebste, ich ganz und gar Verdammter habe also den Ruhm, Dich Gesunde krank gemacht zu haben. Schone Dich, Du höre, schone Dich, was ich an Dir verschuldet habe, mache es mir zu Liebe an Dir wieder gut! Und ich wage es, Dir Vorwürfe wegen Deines Nichtschreibens zu machen und vergrabe mich so in eigene Unruhe und eigenes Verlangen, dass ich gar nicht fühle, dass Du krank bist, sondern lächerliche Vermutungen habe, Du seiest in Proben oder Unterhaltungen. Wahrhaftig wenn wir durch Erdteile getrennt wären und Du irgendwo in Asien lebtest, wir könnten nicht weiter auseinander sein. Jeder Deiner Briefe ist ja für mich unendlich und sei er noch so klein (Gott, was dreht sich mir denn alles zu scheinbaren Vorwürfen, Dein heutiger Brief ist nicht klein, er ist genau 10000 mal größer als ich ihn verdiene) ich lese ihn bis zur Unterschrift und fange ihn wieder an und so geht es im schönsten Kreise. Aber schließlich muß ich doch einsehn, dass er einen Schlußpunkt hat, dass Du von ihm aufgestanden und weggegangen bist, für mich ins Dunkel. Da möchte man sich vor den Kopf schlagen.
Heute war aber wirklich schon höchste Zeit, dass der Brief kam. Ich bin nicht so entschlossen wie Du, ich wollte nicht nach Berlin fahren, ich war bloß entschlossen, nicht früher aus dem Bett zu gehn ehe der Brief kam und zu diesem Entschluß gehörte keine besondere Kraft, ich konnte einfach vor Traurigkeit nicht aufstehn. Es schien mir auch, dass dieser Roman gestern in der Nacht sich sehr verschlechtert habe und ich lag zutiefst unten und hatte doch noch die klarste Erinnerung an das Glück nach jenem Einschreibebrief und wenn ich aufschaute, sah ich mich, der doch so elend war, förmlich noch immer in der Höhe im Glücke gehn. Vorgestern in der Nacht träumte ich zum zweiten Mal von Dir. Ein Briefträger brachte mir zwei Einschreibebriefe von Dir und zwar reichte er mir sie, in jeder Hand einen, mit einer prachtvoll präcisen Bewegung der Arme, die wie die Kolbenstangen einer Dampfmaschine zuckten. Gott, es waren Zauberbriefe. Ich konnte soviel beschriebene Bogen aus den Umschlägen ziehn, sie wurden nicht leer. Ich stand mitten auf einer Treppe und mußte die gelesenen Bogen, nimm es mir nicht übel, auf die Stufen werfen, wollte ich die weiteren Briefe aus den Umschlägen herausnehmen. Die ganze Treppe nach oben und unten war von diesen gelesenen Briefen hoch bedeckt und das lose aufeinandergelegte, elastische Papier rauschte mächtig. Es war ein richtiger Wunschtraum.
Aber heute am Tag mußte ich den Briefträger ganz anders herbeiziehen. Unsere Briefträger sind so unpünktlich. Um ¼12 erst kam der Brief, zehnmal wurden die verschiedensten Leute von meinem Bett aus auf die Treppe hinausgeschickt, als könnte ihn das herauflocken, ich selbst durfte nicht aufstehn, aber um ¼12 war der Brief also wirklich da, aufgerissen und in einem Atemzug gelesen. Ich war unglücklich über Dein Kranksein, aber - jetzt enthüllt sich meine Natur - ich wäre unglücklicher gewesen, wenn Du bei guter Gesundheit mir nicht geschrieben hättest. Aber jetzt haben wir uns also wieder und wollen nach einem guten Händedruck einer den andern gesünder machen und dann gesund miteinander fortleben. -
Wieder antworte ich auf nichts, aber Antworten ist eben Sache der mündlichen Rede, durch Schreiben kann man nicht klug werden, höchstens eine Ahnung des Glücks bekommen. Ich werde Dir übrigens heute wohl noch schreiben, wenn ich auch noch heute viel herumlaufen muß und eine kleine Geschichte niederschreiben werde, die mir in dem Jammer im Bett eingefallen ist und mich innerlichst bedrängt.

Dein Franz

[am Briefrand]
(Sei nicht unruhig, ich telephoniere auf keinen Fall, tu es auch nicht, ich ertrüge es nicht.)


Roman: "Der Verschollene" (auch bekannt unter dem Titel "Amerika").
kleine Geschichte: Erster Hinweis auf die Entstehung der Erzählung "Die Verwandlung". In den Briefen bis zum 6. Dezember 1912 bedeutet Kafkas "Geschichte" stets "Die Verwandlung".

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at