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[An Felice Bauer]
[Prag, 18. November 1912; Montag]

18. XI. 12

Meine Liebste, es ist ½2 nachts, die angekündigte Geschichte ist bei weitem noch nicht fertig, am Roman ist heute keine Zeile geschrieben worden, ich gehe mit wenig Begeisterung ins Bett. Hätte ich die Nacht frei, um sie, ohne die Feder abzusetzen, durchschreiben zu können bis zum Morgen! Es sollte eine schöne Nacht werden. Aber ich muß ins Bett, denn ich habe gestern nacht schlecht, heute bei Tag fast gar nicht geschlafen und in gar zu jammervollem Zustand darf ich doch nicht ins Bureau gehn. Morgen Deine Briefe, Liebste, Liebste! Bin ich halbwegs wach, dann kräftigen sie mich zweifellos, bin ich aber im Dusel, dann möchte ich am liebsten im Sessel eingesunken fortwährend über ihnen sitzen und jedem Störer die Zähne entgegenfletschen. Nein, über das Bureau rege ich mich durchaus nicht zuviel auf, erkenne die Berechtigung der Aufregung daraus, dass sie schon fünf Jahre Bureauleben überdauert hat, von denen allerdings das erste Jahr ein ganz besonders schreckliches in einer Privatversicherungsanstalt war, mit Bureaustunden von 8 früh bis 7 abends, bis 8, bis ½9, pfui Teufel! Es gab da eine gewisse Stelle in einem kleinen Gang, der zu meinem Bureau führte, in dem mich fast jeden Morgen eine Verzweiflung anfiel, die für einen stärkeren, konsequenteren Charakter als ich es bin überreichlich zu einem geradezu seligen Selbstmord genügt hätte. Jetzt ist es natürlich viel besser, man ist sogar ganz unverdient liebenswürdig zu mir. Gar mein oberster Direktor. Letzthin lasen wir in seinem Bureau Kopf an Kopf aus einem Buch Gedichte von Heine während im Vorzimmer Diener, Bureauchefs, Parteien vielleicht mit den dringendsten Angelegenheiten ungeduldig darauf warteten vorgelassen zu werden. Aber es ist trotzdem arg genug und steht nicht für die Kräfte, die man darauf verwenden muß, es auch nur zu ertragen.
Du ärgerst Dich doch nicht am Ende über diese Art Briefpapier, fällt mir jetzt ein? Das Briefpapier meiner Schwester habe ich vor paar Tagen ausgebraucht und selbst habe ich kaum jemals welches besessen. So reiße ich aus meinem diesjährigen Reisetagebuch ein Blatt nach dem andern heraus und bin unverschämt genug, es Dir zu schicken. Suche es aber wieder dadurch auszugleichen, dass ich Dir ein Blatt, das gerade aus dem Heft gefallen ist, mitschicke mit einem Lied, das man im diesjährigen Sanatorium öfters am Morgen im Chor gesungen hat, in das ich mich verliebt und das ich abgeschrieben habe. Es ist ja sehr bekannt und Du kennst es wohl auch, überlies es doch einmal wieder. Und schicke mir das Blatt jedenfalls wieder zurück, ich kann es nicht entbehren. Wie das Gedicht trotz vollständiger Ergriffenheit ganz regelmäßig gebaut ist, jede Strophe besteht aus einem Ausruf und dann einer Neigung des Kopfes. Und dass die Trauer des Gedichtes wahrhaftig ist, das kann ich beschwören. Wenn ich nur die Melodie des Liedes behalten könnte, aber ich habe gar kein musikalisches Gedächtnis, mein Violinlehrer hat mich aus Verzweiflung in der Musikstunde lieber über Stöcke springen lassen, die er selbst gehalten hat, und die musikalischen Fortschritte bestanden darin, dass er von Stunde zu Stunde die Stöcke höher hielt. Und darum ist meine Melodie zu dem Lied sehr einförmig und eigentlich nur ein Seufzer. Liebste!

Franz


Geschichte: In den Briefen bis zum 6. Dezember 1912 bedeutet Kafkas "Geschichte" stets "Die Verwandlung".
Privatversicherungsanstalt: Die Versicherungsanstalt "Assicurazioni Generali", bei der Kafka von Oktober 1907 bis Juli 1908 tätig war.
Direktor: Dr. Robert Marschner, einer der Direktoren der Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt.
Lied: Das Lied ist "Nun leb wohl, du kleine Gasse" von Albert Graf von Schlippenbach. Kafka erwähnt es bereits in einem Brief an Max Brod vom 22. Juli 1912.
diesjährigen Sanatorium: Kafka verbrachte im Juli 1912 drei Wochen in einem Naturheilsanatorium, Rudolf Justs Kuranstalt, Jungborn im Harz.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at