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[An Felice Bauer]
[Prag, 3. November 1912; Sonntag]

3.XI.12

Liebes Fräulein Felice!
Nun weint mein Neffe nebenan, meine Mutter nennt in unaufhörlich auf tschechisch "braver Junge" und dann "kleiner Junge", es ist schon 6 Uhr abends, nein schon ½7, wie ich auf der Uhr sehe, ich habe mich nachmittag zu lange bei Max aufgehalten, der mir 2 Kapitel einer neuen Geschichte "Aus der Nähschule" vorgelesen hat, die sehr schön geraten und voll mädchenhafter Gefühle ist, die mir aber doch stellenweise gänzlich auseinandergeflogen ist vor dem Bestreben, zu diesem Brief zu kommen, zu dem es mich, wenn ich genau rechne, schon von 2 Uhr nachts an gezogen hat, dem Augenblick, in dem ich mit meinem andern Schreiben aufgehört habe. Nun ist aber schon so spät, meine tyrannische Zeiteinteilung setzt eigentlich schon voraus, dass ich eine Stunde lang schlafe, überdies ist jetzt die letzte verhältnismäßige Stille in der Wohnung, die ich vor der eigentlichen Nachtruhe haben kann, endlich liegen da Korrekturbogen, die ich schon einige Tage, ohne sie durchgesehen zu haben, auf dem Tische habe und die morgen weggeschickt werden sollen und mir vielleicht die paar Stunden Abend- und Nachtzeit glatt wegnehmen werden; aus allen diesen zum größten Teil dummen Gründen wird es kein systematischer Brief werden, wie ich es wollte und wie es dem Sonntag auch zukommt. Aus allen diesen Gründen aber, den letzten mit eingeschlossen, bin ich unzufrieden und traurig und die winzige, ganz junge Katze, die ich aus der Küche höre, winselt mir aus dem Herzen. Nun habe ich außerdem, wie ich es allerdings nicht anders erwarten konnte, keinen Brief von Ihnen bekommen, da Ihre Briefe immer erst mit der zweiten Post kommen, die sonntags nicht mehr ausgetragen wird, ich werde ihn also im besten Falle erst morgen früh bekommen nach der langen Nacht. - Kann mir bei solchen Umständen jemand verwehren, Sie zum kleinen Ersatz alles dessen so anzusprechen, wie ich es oben getan habe? Und paßt diese Ansprache im einzelnen und im ganzen nicht so zusammen, dass man sich sie, wenn sie einmal da ist, niemals wieder abgewöhnen kann?
Liebes Fräulein Felice, wie haben Sie diesen schönen, so schrecklich kurzen Sonntag verbracht? Wenn es einen stören sollte, wenn ein anderer an einen denkt, dann müßten Sie mitten in der Nacht aufgeschreckt worden sein, früh beim Lesen im Bett müßten Sie einige Male über Cacao und Brötchen und sogar über die Mutter hinweggeschaut haben, die Orchideen, die Sie in eine neue Wohnung trugen, müßten Ihnen einmal in der Hand erstrarrt sein und nur vielleicht jetzt bei Schillings Flucht hätten Sie Ruhe, denn jetzt denke ich nicht an Sie, sondern bin bei Ihnen. Aber ich bin nicht bei Ihnen, sondern habe gerade beim Schlußpunkt den Vater, der eben nachhause gekommen ist, im Nebenzimmer eine äußerst schlechte Geschäftsnachricht erzählen hören, bin hineingegangen und mit Vater und Mutter paar Augenblicke traurig und zerstreut beisammengestanden.
In den letzten Tagen sind mir noch zwei Ergänzungen zu unserem gemeinsamen Abend eingefallen, die eine habe ich zufällig in Ihren Briefen gefunden, die andere ist mir aus eigenem eingefallen.
Sie erzählten tatsächlich schon damals, und ich verstehe nicht, wie ich es vergessen konnte, dass es Ihnen ein unangenehmes Gefühl sei, allein im Hotel zu wohnen. Ich sagte damals hiezu wahrscheinlich, dass ich mich im Gegenteil im Hotelzimmer besonders behaglich fühle. Nun ist das für mich wirklich so, ich habe es besonders voriges Jahr erfahren, wo ich im tiefen Winter längere Zeit in nordböhmischen Städten und Städtchen reisen mußte. Diesen Raum eines Hotelzimmers mit übersichtlichen vier Wänden, absperrbar für sich zu haben, sein aus bestimmten Stücken bestehendes Eigentum an bestimmten Stellen der Schränke, Tische und Kleiderrechen untergebracht zu wissen, gibt mir immer wieder wenigstens den Hauch eines Gefühls einer neuen, unverbrauchten, zu Besserem bestimmten, möglichst sich anspannenden Existenz, was ja allerdings vielleicht nichts anderes als eine über sich hinausgetriebene Verzweiflung ist, die sich in diesem kalten Grab eines Hotelzimmers am rechten Platze findet. Jedenfalls habe ich mich dort immer sehr wohl gefühlt und ich kann fast von jedem Hotelzimmer, in dem ich gelebt habe, nur das Beste erzählen. Im allgemeinen reisen wir ja wahrscheinlich beide nicht sehr viel. Aber wie ist es nun mit Ihrem Unbehagen, das Sie nicht einmal die Treppe Ihres Hauses in der Nacht allein hinaufgehen läßt? Sie müssen überdies ganz niedrig wohnen, wie könnte man sonst das Händeklatschen von der Straße her hören (ich verstehe überhaupt nicht, wie man es durch die geschlossenen Fenster hören kann). Und über diese niedrige Treppe wollen Sie allein nicht gehen? Sie, die so ruhig und zuversichtlich scheinen. Nein, da kann mir nicht genügen, was Sie mir über das Öffnen des Haustores geschrieben haben.
An jenem Abend wurde auch vom Jargontheater gesprochen. Sie hatten zwar einmal eine derartige Aufführung gesehen, konnten sich aber an den Titel des Stückes nicht mehr erinnern. Nun spielt, glaube ich, gerade jetzt in Berlin eine solche Truppe und bei ihr mein guter Freund, ein gewisser I. Löwy. Er war es übrigens, der mir in der langen Wartezeit zwischen Ihrem ersten und zweiten Brief unabsichtlich aber doch alles Dankes wert eine kleine Nachricht von Ihnen schickte. Er schreibt mir nämlich sehr oft und schickt mir auch sonst Bilder, Plakate, Zeitungsausschnitte und dgl. Da schickte er mir einmal auch ein Plakat des Leipziger Gastspiels der Truppe. Ich ließ es auf dem Schreibtisch zusammengefaltet liegen, fast ohne es angesehen zu haben. Wie es nun aber auf einem Schreibtisch zuzugehen pflegt, dass einmal das Unterste zuoberst kommt, ohne dass man es will, lag auch einmal gerade dieses Plakat (und nicht etwa ein anderes) obenauf und war überdies ganz aufgeschlagen. Zu diesem Zufall kam der andere, dass ich es genauer las, denn es sind ganz lustige Dinge drin, (eine Schauspielerin, eine verheiratete, ältere Dame, die ich übrigens sehr bewundere, wird dort "Primadonna" genannt, Löwy nennt sich sogar "Dramatist") aber unten in der Ecke stand, zweifellos zum Erschrecken, die Immanuelkirchstraße in Berlin NO, in der das Plakat gedruckt worden ist. Und darum denke ich aus Dankbarkeit heute, wo ich mich zum Glück nicht mehr mit derartigen Nachrichten über Sie begnügen muß, daran, ob Sie nicht einmal diese Schauspieler, von denen ich Ihnen übrigens endlos erzählen könnte, ansehen wollten. Ich weiß es nicht ganz bestimmt, ob sie jetzt in Berlin spielen, aber nach einer Karte dieses Löwy, sie liegt irgendwo auf meinem Tisch herum, glaube ich das annehmen zu können. Gewiß würde Ihnen dieser Mann wenigstens eine Viertelstunde lang sehr gefallen. Vielleicht könnten Sie ihn, wenn es Ihnen Spaß macht, vor dem Spiel oder nach dem Spiel zu sich rufen lassen, ihn durch Berufung auf mich zutraulich machen und ein Weilchen ihn anhören. Das ganze Jargontheater ist schön, ich war voriges Jahr wohl 20 mal bei diesen Vorstellungen und im deutschen Theater vielleicht gar nicht. - Aber dieses Ganze, was ich da geschrieben habe, ist keine Bitte hinzugehen, nein, wahrhaftig nicht. Sie haben in Berlin schönere Theater und vielleicht oder höchstwahrscheinlich macht es schon die höchstwahrscheinliche Schäbigkeit des betreffenden Theatersaales Ihnen ganz unmöglich hineinzugehen. Ich hätte sogar Lust, alles, was ich darüber geschrieben habe, zu zerreißen und bitte Sie wenigstens, aus dieser Lust darauf zu schließen, dass ich Ihnen gar nicht anrate hinzugehen.
Und damit soll ich den Teil des Sonntags, den ich mit Ihrem Brief verbringe, beenden? Aber es wird spät und später und ich muß mich äußerst beeilen, wenn ich vor meiner Nachtschicht noch ein wenig Schlaf finden will. Sicher aber ist, dass ich ihn ohne diesen allerdings bei weitem nicht befriedigenden Brief niemals gefunden hätte.
Und nun leben Sie wohl! Die elende Post, Ihr Brief liegt schon den ganzen Tag vielleicht in Prag und man entzieht mir ihn! Leben Sie wohl!

Ihr Franz K.

Nun ist Mitternacht vorüber, ich habe wirklich nur die Korrekturen fertig gemacht, geschlafen habe ich nicht und auch nichts für mich geschrieben. Jetzt anzufangen, dazu ist es doch schon zu spät, besonders da ich nicht geschlafen habe und so werde ich mich mit einer unterdrückten Unruhe ins Bett legen und um den Schlaf kämpfen müssen. Sie schlafen wohl schon längst und ich tue nicht recht, dass ich Ihren Schlaf noch mit dieser kleinen Ansprache beschwöre. Aber ich habe gerade Ihren letzten Brief ein wenig wieder vorgenommen und es ist mir eingefallen, ob Sie nicht die Arbeit bei dem Professor lassen sollten. Ich weiß zwar nocht nicht, was es für eine Arbeit ist, aber wenn er Ihnen Abend für Abend goldene Worte diktieren sollte, es stünde nicht dafür, dass es Sie müde macht. Und jetzt sage ich Ihnen noch Gute Nacht und Sie danken mit ruhigen Atemzügen.

Ihr Franz K.


Neffe: Felix, Sohn der Schwester Elli (Hermann).
"Aus der Nähschule": Die Erzählung "Aus einer Nähschule" erschien in Max Brod: Weiberwirtschaft. Drei Erzählungen, Berlin 1913.
Korrekturbogen: Von Kafkas "Betrachtung".
Schillings Flucht: Gerhart Hauptmanns Drama "Gabriel Schillings Flucht".
I. Löwy: Kafka war seit dem Winter 1911/12 mit dem aus Rußland stammenden Jargon-Schauspieler Jizchak Löwy befreundet. Er hatte ihn bei einem Prager Gastspiel von Löwys Truppe kennengelernt und verfolgte seither die Tätigkeit dieses Wandertheaters mit großem Interesse.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at