Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

[An Felice Bauer]
[Prag, 1. November 1912; Freitag]

1.XI.12

Liebes Fräulein Felice!
Sie dürfen mir diese Ansprache wenigstens für diesmal nicht übelnehmen, denn wenn ich, wie Sie es schon einige Male verlangten, über meine Lebensweise schreiben soll, so muß ich doch wahrscheinlich einige für mich heikle Dinge sagen, die ich gegenüber einem "gnädigen Fräulein" kaum herausbrächte. Übrigens kann die neue Ansprache nicht etwas gar so Schlimmes sein, sonst hätte ich sie nicht mit so großer und noch fortdauernder Zufriedenheit ausgedacht.
Mein Leben besteht und bestand im Grunde von jeher aus Versuchen zu schreiben und meist aus mißlungenen. Schrieb ich aber nicht, dann lag ich auch schon auf dem Boden, wert hinausgekehrt zu werden. Nun waren meine Kräfte seit jeher jämmerlich klein und, wenn ich es auch nicht offen eingesehen habe, so ergab es sich doch von selbst, dass ich auf allen Seiten sparen, überall mir ein wenig entgehen lassen müsse, um für das, was mir mein Hauptzweck schien, eine zur Not ausreichende Kraft zu behalten. Wo ich es aber nicht selbst tat (mein Gott! selbst an diesem Feiertag beim Journaldienst im Bureau keine Ruhe, sondern Besuch hinter Besuch wie eine losgelassene kleine Hölle) sondern irgendwo über mich hinaus wollte, wurde ich von selbst zurückgedrängt, geschädigt, beschämt, für immer geschwächt, aber gerade dieses, was mich für Augenblicke unglücklich machte, hat mir im Laufe der Zeit Vertrauen gegeben und ich fing zu glauben an, dass da irgendwo, wenn auch schwer aufzufinden, ein guter Stern sein müsse, unter dem man weiterleben könne. Ich habe mir einmal im einzelnen eine Aufstellung darüber gemacht, was ich dem Schreiben geopfert habe und darüber, was mir um des Schreibens willen genommen wurde oder besser, dessen Verlust nur mit dieser Erklärung sich ertragen ließ.
Und tatsächlich, so mager wie ich bin und ich bin der magerste Mensch, den ich kenne (was etwas sagen will, da ich schon viel in Sanatorien herumgekommen bin) ebenso ist auch sonst nichts an mir, was man in Rücksicht auf das Schreiben Überflüssiges und Überflüssiges im guten Sinne nennen könnte. Gibt es also eine höhere Macht, die mich benützen will oder benützt, dann liege ich als ein zumindest deutlich ausgearbeitetes Instrument in ihrer Hand; wenn nicht, dann bin ich gar nichts und werde plötzlich in einer fürchterlichen Leere übrig bleiben.
Jetzt habe ich mein Leben um das Denken an Sie erweitert und es gibt wohl kaum eine Viertelstunde während meines Wachseins, in der ich nicht an Sie gedacht hätte, und viele Viertelstunden, in denen ich nichts anderes tue. Aber selbst dieses steht mit meinem Schreiben im Zusammenhang, nur der Wellengang des Schreibens bestimmt mich und gewiß hätte ich in einer Zeit matten Schreibens niemals den Mut gehabt, mich an Sie zu wenden. Das ist so wahr, wie es wahr ist, dass ich seit jenem Abend ein Gefühl hatte als hätte ich eine Öffnung in der Brust, durch die es saugend und unbeherrscht ein- und auszog, bis sich mir eines Abends im Bett durch die Erinnerung an eine biblische Geschichte die Notwendigkeit jenes Gefühls wie auch die Wahrheit jener biblischen Geschichte gleichzeitig bewies. Wie Sie nun aber auch mit meinem Schreiben verschwistert sind, trotzdem ich bis dahin glaubte, gerade während des Schreibens nicht im geringsten an Sie zu denken, habe ich letzthin staunend gesehn. In einem kleinen Absatz, den ich geschrieben hatte, fanden sich unter anderem folgende Beziehungen zu Ihnen und zu Ihren Briefen: Jemand bekam eine Tafel Chokolade geschenkt. Es wurde von kleinen Abwechslungen gesprochen, die jemand während seines Dienstes hatte. Weiterhin gab es einen telephonischen Anruf. Und schließlich drängte jemand einen andern schlafen zu gehn und drohte ihm, ihn, wenn er nicht folgen werde, bis auf sein Zimmer zu führen, was sicher nur eine Erinnerung an den Ärger war, den Ihre Mutter hatte, als Sie so lange im Bureau blieben. - Solche Stellen sind mir besonders lieb, ich halte Sie darin, ohne dass Sie es fühlen und ohne dass Sie sich also wehren müßten. Und selbst wenn Sie einmal etwas Derartiges lesen sollten, werden Ihnen diese Kleinigkeiten bestimmt entgehn. Das dürfen Sie aber glauben, dass Sie vielleicht nirgends auf der Welt mit größerer Sorglosigkeit sich fangen lassen dürften als hier.
Meine Lebensweise ist nur auf das Schreiben hin eingerichtet und wenn sie Veränderungen erfährt, so nur deshalb, um möglicher Weise dem Schreiben besser zu entsprechen, denn die Zeit ist kurz, die Kräfte sind klein, das Bureau ist ein Schrecken, die Wohnung ist laut und man muß sich mit Kunststücken durchzuwinden suchen, wenn es mit einem schönen geraden Leben nicht geht. Die Befriedigung über ein derartiges Kunststück, das einem in der Zeiteinteilung gelungen ist, ist allerdings nichts gegenüber dem ewigen Jammer, dass jede Ermüdung sich in dem Geschriebenen viel besser und klarer aufzeichnet, als das, was man eigentlich aufschreiben wollte. Seit 1 ½ Monaten ist meine Zeiteinteilung mit einigen in den letzten Tagen infolge unerträglicher Schwäche eingetretenen Störungen die folgende: Von 8 bis 2 oder 21/3 Bureau, bis 3 oder ½4 Mittagessen, von da ab Schlafen im Bett (meist nur Versuche, eine Woche lang habe ich in diesem Schlaf nur Montenegriner gesehn mit einer äußerst widerlichen, Kopfschmerzen verursachenden Deutlichkeit jedes Details ihrer komplizierten Kleidung) bis ½8, dann 10 Minuten Turnen, nackt bei offenem Fenster, dann eine Stunde Spazierengehn allein oder mit Max oder mit noch einem andern Freund, dann Nachtmahl innerhalb der Familie (ich habe 3 Schwestern, eine verheiratet, eine verlobt, die ledige ist mir, unbeschadet der Liebe zu den andern, die bei weitem liebste) dann um ½11 (oft wird aber auch sogar ½12) Niedersetzen zum Schreiben und dabeibleiben je nacht Kraft, Lust und Glück bis 1, 2, 3 Uhr, einmal auch schon bis 6 Uhr früh. Dann wieder Turnen, wie oben, nur natürlich mit Vermeidung jeder Anstrengung, abwaschen und meist mit leichten Herzschmerzen und zuckender Bauchmuskulatur ins Bett. Dann alle möglichen Versuche einzuschlafen, d.h. Unmögliches zu erreichen, denn man kann nicht schlafen (der Herr verlangt sogar traumlosen Schlaf) und dabei gleichzeitig an seine Arbeiten denken und überdies die mit Bestimmtheit nicht zu entscheidende Frage mit Bestimmtheit lösen wollen, ob den nächsten Tag ein Brief von Ihnen kommen wird und zu welcher Zeit. So besteht die Nacht aus zwei Teilen, aus einem wachen und einem schlaflosen und wollte ich Ihnen darüber ausführlich schreiben und wollten Sie es anhören, ich würde niemals fertig werden. Natürlich ist es dann kein besonderes Wunder, wenn ich im Bureau am Morgen gerade knapp noch mit dem Ende meiner Kräfte zu arbeiten anfange. Vor einiger Zeit stand auf einem Korridor, über den ich immer zu meinem Schreibmaschinisten gehe, eine Bahre, auf der Akten und Drucksorten transportiert werden, und immer wenn ich an ihr vorüberging, schien sie mir vor allem für mich geeignet und auf mich zu warten.
Um genau zu sein, darf ich nicht vergessen, dass ich nicht nur Beamter sondern auch Fabrikant bin. Mein Schwager hat nämlich eine Asbestfabrik, ich (allerdings nur mit einer Geldeinlage meines Vaters) bin Teilhaber und als solcher auch protokolliert. Diese Fabrik hat mir schon genug Leid und Sorgen gemacht, von denen ich aber jetzt nicht erzählen will, jedenfalls vernachlässige ich sie seit längerer Zeit (d.h. ich entziehe ihr meine im übrigen unbrauchbare Mitarbeit) so gut es geht und es geht so ziemlich.
Nun habe ich aber wieder so wenig erzählt und gar nicht gefragt und muß schon wieder schließen. Aber keine Antwort und noch zweifelloser keine Frage soll verlorengehen. Nun es gibt zwar ein Zaubermittel, mittelst dessen zwei Menschen, ohne einander zu sehen, ohne miteinander zu sprechen, zumindest das meiste Vergangene über einander erfahren können, mit einem Schlage förmlich, ohne einander alles schreiben zu müssen, aber es ist immerhin schon fast ein Mittel der hohen Magie (ohne dass es so aussieht) und an diese tritt man doch, wenn auch niemals unbelohnt, so noch gewisser auch niemals unbestraft heran. Deshalb spreche ich es auch nicht aus, Sie müßten es denn erraten. Es ist schrecklich kurz, wie alle Zaubersprüche.
Leben Sie wohl und lassen Sie mich diesen Wunsch durch einen langen Handkuß noch besiegeln.

Ihr Franz K.


Aufstellung: Vgl. Tagebücher (3. Jänner 1912).
Beziehungen zu Ihnen und zu Ihren Briefen: Vgl. den vorletzten Absatz des Kapitels "Hotel Occidental" in Kafkas Amerika-Roman "Der Verschollene".
3 Schwestern: Kafkas Schwestern hießen Elli (Gabriele), Valli (Valerie) und Ottla (Ottilie). Elli, geb. 22.9.1889, war mit Karl Hermann verheiratet; Valli, geb. 25.9.1890, heiratete im Jänner 1913 Josef Pollak; Kafkas Lieblingsschwester Ottla, geb. 29.10.1892, heiratete erst im Jahr 1920.
Schwager: Karl Hermann, Mann der Schwester Elli.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at