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[An Felice Bauer]
[Prag, 2. November 1912; Samstag]
[Briefkopf der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt]

2.X.12

Gnädiges Fräulein!
Wie denn? Sie werden auch müde? Es ist mir ein fast unheimliches Gefühl, Sie am Abend müde und allein in Ihrem Bureau zu wissen. Wie sind Sie denn im Bureau angezogen? Und worin besteht Ihre Hauptarbeit? Sie schreiben oder diktieren? Und es muß doch eine hohe Stellung sein, wenn Sie mit so vielen Leuten zu reden haben, denn der niedrige Beamte sitzt doch stumm bei seinem Tisch. Daß eine Fabrik bei Ihrem Bureau ist, hatte ich schon erraten, aber was wird da gemacht? Nur Parlographen? Ja kauft denn das jemand? Ich bin glücklich (falls ich in Ausnahmsfällen nicht selbst auf der Maschine schreibe), einem lebendigen Menschen diktieren zu können (das ist meine Hauptarbeit), der hie und da, wenn mir gerade nichts einfällt, ein wenig einnickt oder der sich hie und da ein wenig ausstreckt oder die Pfeife anzündet und mich unterdessen ruhig aus dem Fenster schauen läßt? Oder der, wie heute z.B., als ich ihn wegen seines langsamen Schreibens beschimpfte, mich zur Besänftigung daran erinnert, dass ich einen Brief bekommen habe. Gibt es einen Parlographen, der das kann? Ich erinnere mich, dass uns vor einiger Zeit ein Diktaphon (damals hatte ich noch nicht das Vorurteil, das ich heute gegen die Fabrikate Ihrer Konkurrenz habe) vorgeführt wurde, aber das war unmäßig langweilig und unpraktisch. Ich kann mich also in das Geschäft nicht recht hineindenken und würde nur wünschen, dass es auch in Wirklichkeit so unbegründet und luftig organisiert wäre, wie ich es mir vorstelle, und dass Sie darin ein entsprechend leichtes und müheloses Leben führten. Übrigens kann ich auch Ihre Prager Filiale nicht finden, die meiner Erinnerung an eine Ihrer Bemerkungen nach in der Obstgasse oder Ferdinandstraße gelegen sein soll. Ich habe sie schon öfters gesucht, denn irgend ein Zeichen oder eine Ahnung von Ihnen müßte ich doch aus dem Anblick der Firmatafel bekommen können.
Meine Bureauarbeit zu beschreiben, macht mir wenig Vernügen. Sie ist an sich nicht wert, dass Sie von ihr erfahren, und sie ist auch nicht wert, dass ich Ihnen von ihr schreibe, denn sie läßt mir keine Zeit und Ruhe Ihnen zu schreiben, macht mich so fahrig und sinnlos wie ich jetzt bin und wird nur wieder zur Rache von den Gedanken an Sie so aufgestört, dass es eine Lust ist.
Leben Sie wohl! Morgen kommt wahrscheinlich ein ruhiger Sonntag, dann schreibe ich Ihnen eine Menge. Und arbeiten Sie sich nicht müde! Machen Sie mich nicht traurig! - Und das schreibe ich an dem Tag, an dem Sie meinen Jammerbrief bekommen haben. Was sind wir für schwache Menschen!

Ihr Franz K.


hohe Stellung: Felice Bauer war seit August 1909 Stenotypistin bei der Firma Carl Lindström A.G. (Berlin). Seit 1912 hatte sie eine leitende Stellung in der Parlographenabteilung der Firma.

Letzte Änderung: 29.4.2016werner.haas@univie.ac.at