Der Großmachtkonflikt verschärft sich

US-Präsident Biden setzt den konfrontativen Kurs gegenüber China fort. Aber auch die Konkurrenz mit Russland wird nicht kleiner.

Die Nato-Manöver „Defender Europe“ und die Übungen Russlands an der ukrainischen Grenze im Mai und Oktober sowie die Schließung der Nato-Vertretung in Moskau nach Spionagevorwürfen sind symbolisch für die Beziehungen zwischen Russland und der Nato. US-Präsident Joe Biden beschrieb beim Nato-Gipfel im Juni das Verhältnis so: „Russlands aggressives Verhalten stellt eine Bedrohung der euro-atlantischen Sicherheit dar.“ Beim Gipfel der Nato-Verteidigungsminister am 21. Oktober wurde ein Plan gegen die „russische Aggression“ präsentiert.

Die Rhetorik erinnert an den Höhepunkt des Kalten Krieges. Der Nato-Russland-Rat, der nach der Nato-Osterweiterung 1997 gegründet wurde, um mit Russland im Gespräch zu bleiben, wurde seither wegen verschiedener Konflikte über den Kosovo, die Ukraine oder den Mittelstreckenvertrag immer wieder suspendiert. Präsident Wladimir Putin versucht, Russland in dieser Großmachtkonkurrenz als gleichwertigen Pol zu platzieren. Zwar sind seine Militärausgaben gegenüber der Nato mit 8 Prozent vergleichsweise niedrig und sein Bruttosozialprodukt in der Größe von Italien klein, doch Russland ist nicht nur eine Nuklearwaffenmacht, sondern liegt nach geopolitischen Kriterien global an zweiter Stelle noch vor China. Nimmt man die interne Kaufkraft als Maßstab, liegt Russland weltweit an sechster Stelle. Diplomatisch war Russland im Syrien- und Afghanistan-Konflikt schneller und besser organisiert als die EU.

Der Großmachtkonflikt verschärft sich. Außenpolitisch sehen sich die Nato und die USA nun zwei Fronten gegenüber: China und Russland. Für den US-Präsidenten ist China die Hauptbedrohung. Es geht den USA darum, zu verhindern, von diesem Herausforderer nicht überholt zu werden. Biden setzen gegenüber China den konfrontativen Kurs der vergangenen Jahre fort, denn China darf aus US-Sicht weder die stärkste Militärmacht der Welt noch die mächtigste und bedeutendste Wirtschaft bis 2040 werden. US-Außenminister Antony Blinken hat auf seiner Ostasien-Reise im März Chinas Sündenregister aufgezählt, darunter den Umgang mit den Uiguren und der Demokratie-Bewegung in Hongkong, das Verhalten im Südchinesischen Meer. Im US-Wahlkampf hatte Biden Chinas Präsidenten Xi Jingping gar als „Gangster“ bezeichnet.

Zwei Flügel in der Nato

In der Nato gab es immer wieder unterschiedliche Orientierungen. Sie wurde 1949 als territoriales Bündnis gegen die Sowjetunion nördlich des Wendekreises des Krebses gegründet. Nach der Gründung des Warschauer Paktes 1955 kam es zur militärischen und ideologischen Blockkonfrontation des Kalten Krieges. Nach der Auflösung des Warschauer Paktes 1991 suchte die Nato neue Aufgaben, um nicht überflüssig zu werden. Sie fand diese außerhalb ihres traditionellen Territoriums, etwa am Balkan oder in Afghanistan. Der traditionelle Nato-Flügel war damit unzufrieden. Er bekam aber wieder Aufschwung nach der russischen Besetzung der Krim im Jahr 2014. Russland war der alte und neue Gegner.

Die Nato steht nun wieder am Scheideweg. Innerhalb des Bündnisses bilden sich wieder zwei Flügel heraus. Einige der europäischen Mitglieder, wie die baltischen Staaten und Polen, aber auch Deutschland, sehen vor allem in Russland die größte Bedrohung. Ein anderer Teil des transatlantischen Verteidigungsbündnisses orientiert sich zunehmend an der geopolitischen Auseinandersetzung mit China. Die nächste Nato-Doktrin wird vermehrt China zum Gegenstand haben. Schon jetzt gilt der Beistandsartikel V des Nato-Vertrages auch für Cyberangriffe, die vor allem China zugeschrieben werden.

Ein System von Bündnissen

Biden versucht, beide wahrgenommenen Bedrohungen mit einem Kampf gegen „Autoritarismus“ zu verbinden. Zu diesem Behufe baut er ein System von Bündnissen auf. Die Nato soll Kern eines „Bündnisses von Demokratien“ gegen China und Russland sein. Ein geopolitisches Bündnis soll mit einem Wertesystem unterstützt werden. Es handelt sich dabei um den Versuch, einen Großmachtkonflikt als Wertekonflikt darzustellen. Das entbehrt nicht eines gewissen Messens mit zweierlei Maß. Denn für autokratische Verbündete der USA werden weniger strenge Maßstäbe herangezogen. Es sind auch Länder dabei, die diese Werte nicht teilen oder selbst autoritär regiert werden. Die Nato-Mitglieder Türkei, Polen und Ungarn werden von der EU-Kommission immer wieder wegen mangelnder europäischer Werte getadelt.

China wird gewarnt, dass es sich an die Regeln halten soll. Das neu gegründete Bündnis Aukus zwischen den USA, Großbritannien und Australien soll Teil des Bündnissystems gegen China werden, wobei auch Nicht-Demokratien wie die Philippinen oder Vietnam als Partner gewonnen werden sollen. Es ist ein Paradox, dass die USA anderen die Verletzung des internationalen Seerechts vorwirft, dem sie selbst gar nicht beigetreten sind. Angesichts dieser Polarisierung hat die Bewältigung gemeinsamer Herausforderungen, wie globale Gesundheitssicherheit, Klimaveränderung oder Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, Grenzen.

Der heutige US-Präsident Biden und die Nato verfolgen eine ähnliche Strategie wie der damalige US-Präsident Bill Clinton in den 1990ern. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg bekennt sich zur Kombination von Stärke und Dialog. Das ist die Sprache des sogenannten Harmel-Planes von 1967, lange vor der Entspannungspolitik und dem Helsinki-Prozess. Clinton glaubte, er könne die Nato bis an die russische Grenze ausdehnen und zugleich ein „konstruktives Verhältnis“ zu Russland aufbauen, obwohl ihn der russische Präsident Boris Jelzin eindringlich vor einer Nato-Erweiterung gewarnt hatte.

Zwei-Fronten-Konflikt

Im Kalten Krieg gab es stillschweigende Übereinkünfte, rote Linien nicht zu überschreiten: Für die USA waren das Interventionen in Osteuropa und der Mandschurei, für die Sowjetunion waren Westeuropa, Lateinamerika und Japan tabu. Es gab aber genügend Raum zum „Wildern“ für beide Großmächte, ohne direkt aufeinanderzutreffen. Derartige rote Linien zeichnen sich derzeit nicht ab. Auch eine weitsichtige China-Politik der USA, wie die Öffnung zu Beginn der 1970er Jahre, ist nicht in Sicht. Die Rüstungskontrolle des Kalten Krieges gibt es nicht mehr. Hingegen werden Waffensysteme modernisiert und neue entwickelt.

Die Welt bewegt sich auf einen Großmachtkonflikt mit zwei Fronten zu: USA/Nato versus China und USA/Nato versus Russland. Alle Beteiligten bereiten sich aber auch auf den Fall vor, dass er militärisch werden könnte. Nach Meinung einiger EU-Vertreter sollte Europa durch die Aufstellung einer eigenen Interventionstruppe mithalten. Angesicht von vierzig Jahren gescheiterter Interventionen in Afghanistan durch die Sowjetunion und die Nato klingt dieser Vorschlag fremd. Die meisten EU-Bürger wollen nicht in einen Krieg hineingezogen werden und im Konflikt der USA mit China lieber neutral bleiben.

(Wiener Zeitung, 29.10.2021)