Presse-Kommentar: Darabos und Clausewitz

GASTKOMMENTAR VON HEINZ GÄRTNER (Die Presse, 04.09.2007)


Der Wunsch der USA, ihre Unverwundbarkeit zu erhöhen, hat zur Folge, dass die Verwundbarkeit globaler Konkurrenten gleichzeitig vergrößert wird.

Der Verteidigungsminister hat die Errichtung eines Raketenabwehrsystems in Polen und der Tschechischen Republik als Provokation bezeichnet. Die USA hatten Darabos Äußerung als Szenario des Kalten Krieges kritisiert. Nun könnte aber grade ein solches eintreten. Ein derartiges System kann eine Aktions-Reaktion Handlungskette hervorrufen und damit einen Rüstungswettlauf provozieren. Die USA aber betonen, dass die Systeme in Europa lediglich defensiven Charakter hätte und nur gegen den Iran gerichtet seien. Sie würden Bürger wie Soldaten schützen. Offensivraketen könnten in den Silos nicht stationiert werden; die Anzahl von zehn Raketen sei außerdem zu gering, um die russische strategische Abschreckungskapazität (ICBMs) zu gefährden (siehe Gastkommentar von Susan McCaw, 30. August).

Eine reine Defensive gibt es nicht
Die Argumente klingen überzeugend und sogar moralisch gut, denn wem kann man es verdenken, sich gegen welche Gefahr auch immer zu wehren? Gleichgültig, ob sie nun den Tatsachen entsprechen oder nicht, eigendynamische Konsequenzen sind möglich und sogar wahrscheinlich. Gut gemeinte und vorgetragene Intentionen reichen in Aufrüstungsfragen nicht aus, um Misstrauen zu beseitigen. Von den Sozialwissenschaften wurde der Begriff des Sicherheitsdilemmas geprägt. Es besagt, dass Aufrüstung von A zum eigenen Schutz immer zugleich von B, C … als Bedrohung gesehen wird, die Gegenmaßnahmen ergreifen, was wiederum von A als bedrohlich empfunden wird usw.

Es gibt beim Aufrüstungsprozess keine rein defensiven Maßnahmen. Der preußische Militärstratege Karl von Clausewitz hatte im 19. Jahrhundert überzeugend formuliert, dass Überlegenheit nur durch die Kombination von Angriffs- und Verteidigungsfähigkeit erreicht werden kann. Für ihn ist die Verteidigung sogar die stärkere Form des Kriegführens, denn einen Angriff ohne Beimischung von Verteidigung kann es nicht geben. Und: Ein Krieg bloß zum Abwehren ist widersinnig. Ein Schild ohne Schwert ist sinnlos, so wie eine Schutzburg ohne Kanonen. Das heißt, dass Defensivsysteme immer eine bessere Offensivfähigkeit ermöglichen. Ganz in diesem Sinne betonen die USA selbst in ihrer „Nuclear Posture Review“ von 2001 die Kombination der Entwicklung verbesserter konventioneller und nuklearer Waffensysteme mit größerer Durchdringungsfähigkeit mit einem Raketenabwehrsystem.

Was bedeutet das für das Raketenabwehrsystem in Europa? Durch die Anlagen könnten Offensivraketen geschützt werden, die in Krisensituationen rasch stationiert werden können. Daher mobilisiert Russland bereits jetzt alle seine konventionellen und nuklearen Offensivfähigkeiten, um auf einen derartigen Fall vorbereitet zu sein. Ein Rüstungswettlauf ist die Folge. Rüstungskontrollverträge werden geopfert. Russland hat schon den Vertrag über die Beschränkung konventioneller Systeme (Kampfpanzer, Artillerie, Kampfflugzeuge, Angriffshubschrauber, gepanzerte Fahrzeuge) suspendiert. Es hat weiters gedroht, den Vertrag über das Verbot von solchen Mittelstreckenraketen von 1987 (INF) zu kündigen. Deren Stationierung in Europa würde dann wieder möglich. Russland könnte Nuklearwaffen etwa in Weißrussland stationieren. Von einem nuklearen Schlagabtausch in der Zukunft wären dann primär jeweils europäische Verbündete der nuklearen Großmächte betroffen. Das wäre ein fataler „Kompromiss“ auf Kosten Dritter. Der Wunsch der USA, ihre Unverwundbarkeit zu erhöhen, hat zur Folge, dass die Verwundbarkeit globaler Konkurrenten (vor allem Russland und China) gleichzeitig vergrößert wird. Die nationalen Sicherheitsstrategien der USA von 2002 und 2006 unterstreichen, dass es die USA nicht zulassen würden, dass potenzielle Gegner mit den USA militärisch gleichziehen oder sie gar überholen würden. Durch Abwehranlagen in den USA und in Europa wird deren Abschreckungswirkung vermindert. Ein Vergeltungsschlag auf einen potenziellen Erstschlag der USA würde verunmöglicht oder zumindest stark verringert, da die verbleibenden Raketen relativ leicht abgefangen werden können. Als Konsequenz werden diese Staaten die Anzahl ihrer nuklearen Sprengköpfe erhöhen, um das Abwehrsystem dennoch zu überwinden, oder vermehrt in Raketentypen investieren, die das Schild umgehen können (z.B. Cruise Missiles).

Kein Ausweg aus Sicherheitsdilemma
Gleichgültig, ob man Offensiv- oder Defensivsysteme aufbaut, dem Sicherheitsdilemma entkommt man nicht. Clausewitz hat auf deren Einheit hingewiesen. Im Sinne von Clausewitz hat Norbert Darabos Recht. Subjektive Beteuerungen über die defensive Natur von Rüstungsanlagen sind objektiv nicht zutreffend. Schon die frühe Administration Nixon hatte argumentiert, ein derartiges Abwehrsystem sei nicht gegen die Sowjetunion sondern nur gegen China gerichtet. Dass man China sagte, aber die Sowjetunion meinte, hatte der damalige Sicherheitsberater Henry Kissinger 1979 bei einem Vortrag beim „Center for Strategic and International Studies“ eingeräumt. Daher ist es schwer glaubhaft zu machen, dass man sich nur gegen einen bestimmten „Schurkenstaat,“ wie Iran, (zu) aufwendig schützen will, der noch weit davon entfernt ist, eine strategische Kapazität zu erreichen. In der klassifizierten Version der Nuclear Posture Review werden übrigens nicht nur der Iran und Nordkorea, sondern auch China und Russland als potenzielle Ziele genannt.

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