Hat unsere Neutralität ausgedient?

In den 60 Jahren seit Beschlussfassung der Neutralität änderte sich die politische Landschaft in Europa und Österreich gehört der Europäischen Union an. Ist die Neutralität heute noch sinnvoll oder ist sie lediglich ein bedeutungslos gewordenes Relikt der Vergangenheit?

Die Zusicherung, Österreich werde künftig neutral sein, war 1955 der Schuhlöffel für den Staatsvertrag, der die Besetzung durch die USA, die Sowjetunion, Großbritannien, Frankreich beendete. Am 26. Oktober 1955 beschloss der Nationalrat die immerwährende Neutralität. Seit 1965 ist der 26. Oktober ein Nationalfeiertag, 1967 wurde dieser Tag auch zu einem arbeitsfreien Feiertag.

In den 60 Jahren seit Beschlussfassung der Neutralität änderte sich die politische Landschaft in Europa und Österreich gehört der Europäischen Union an. Ist die Neutralität heute noch sinnvoll oder ist sie lediglich ein bedeutungslos gewordenes Relikt der Vergangenheit?

Journalistin Anneliese Rohrer und Universitätsprofessor Heinz Gärtner sind unterschiedlicher Meinung:

PRO

Die vielfach ausgezeichnete Journalistin Anneliese Rohrer sieht die Neutralität als Relikt einer verlogenen Identität Österreichs.

 Vor genau 60 Jahren wurde das Bundesverfassungsgesetz über die Neutralität Österreichs geschaffen. Ungefähr 40 Jahre lang konnte es sich unbehelligt zu einer Art Bestandsgarantie Österreichs als „Insel der Seligen“ entwickeln. Nach 20 Jahren kam es zur Midlife-Krise. Zweifel an seiner Tauglichkeit, seinem Erfolg, seiner Existenzberechtigung begannen.

Der damalige  Bundespräsident Thomas Klestil wollte die Neutralität 1992 in den „Tabernakel der Geschichte“ verbannen, wo sie neun Jahre später auch der damalige Bundeskanzler Wolfgang Schüssel zusammen mit Mozartkugeln und allen „Schablonen, die im 21. Jahrhundert keine Gültigkeit mehr haben“, sehen wollte. Heute ist sie scheintot, nur hat politisch niemand den Mut, ihr ein Begräbnis erster Klasse auszurichten.

Klestils Worte blieben ohne Resonanz. Er hätte sie 1995 wiederholen müssen, als Österreich die „Partnership for Peace“ mit dem Verteidigungsbündnis Nato eingegangen ist, denn in dem Gesetz heißt es, dass Österreich „in aller Zukunft keinem militärischen Bündnis beitreten“ werde. Na ja, eine Partnerschaft ist ja kein Bündnis, oder? Wir waren wieder fein aus dem Argumentationsnotstand. 1997 beschloss die ÖVP einstimmig im Vorstand den Beitritt Österreichs zur Nato, ersparte sich aber die Frage der Neutralität. War ja nicht so ernst gemeint.

Denn 2002 fasste sie genau den gegenteiligen Beschluss. Nunmehr verlangt die ÖVP in ihrem neuen Parteiprogramm den „Ausbau eines gesamteuropäischen Sicherheits- und  Verteidigungssystems“, ohne die Rolle des Bundesheeres darin zu definieren und festzuschreiben, dass eine Teilnahme Österreichs zwangsläufig nicht nur das stillschweigende Ende der Neutralität, sondern die Ausstellung des Totenscheins in Form einer Änderung der Bundesverfassung bedeuten würde.

Die Streichung der Neutralität aus der Bundesverfassung würde eine  Gesamtänderung derselben bedeuten, und eine solche ist zwingend einer Volksabstimmung zu unterziehen. Nun signalisieren aber alle Umfragen eine satte Mehrheit für  Beibehaltung der Neutralität. Deshalb passen sich Parteien und Regierungen der Befindlichkeit der Wähler an: Sie wollen von der neuen Wirklichkeit nichts wissen. Sie wollen die Realität, die eine Vergötterung des Fetischs Neutralität gefährlich für die Republik macht, nicht zur Kenntnis nehmen. Sie wollen sich weiter in den Sack lügen und in einem neutralen Verhalten Österreichs (wem oder was gegenüber eigentlich?) eine Art Lebensversicherung sehen, für die sie aber keine Prämie zu zahlen bereit sind.

Sie  wollen nicht zugeben, dass Solidarität in Europa im Ernstfall mit Neutralität nicht vereinbar ist. Oder wie der Chef des Generalstabs, Othmar Commenda, jüngst im  Fernsehen festgehalten hat: „Für das Heer ist die  Neutralität irrelevant.“ Wenn nicht für das Heer, für wen dann? Seit 40 Jahren drücken sich Politiker und Bürger vor einer ehrlichen Neubewertung eines ehemals sinnstiftenden Gesetzes. Offenbar weiß niemand, wie wir die Neutralität im Ernstfall handhaben würden. Deshalb wäre es ehrlicher, sie endlich zu Grabe zu tragen. Das wäre ein befreiender  Abschied und die Chance für eine neue, weniger verlogene Identität Österreichs – in Europa.

KONTRA

Für Universitätsprofessor Heinz Gärtner stellt die Neutralität für Österreich eine große Plattform in der internationalen Politik dar.

Die österreichische Neutralität hat sich als erstaunlich flexibel und anpassungsfähig erwiesen. Sie war immer in der Lage, ein Gleichgewicht zwischen Heraushalten und  Einmischen zu finden. Österreich ist nicht Mitglied eines Militärbündnisses, das ein Versprechen einfordert, künftig in einen unbekannten Krieg zu ziehen. Österreich beteiligt sich nicht an fremden Kriegen. Friedensmissionen sollen unter der Oberhoheit der Vereinten Nationen stehen.

Der Kalte Krieg war gekennzeichnet durch Blockbildung, Neutralität war die Ausnahme. Diese wurde von dem amerikanischen Präsidenten Dwight Eisenhower geschätzt.  Er ließ während der Ungarnkrise 1956 sogar wissen, dass  die Verletzung der österreichischen Neutralität einen dritten Weltkrieg auslösen könnte. Österreichs Neutralität war ein ernsthaftes Vorbild für ein geeintes Deutschland, der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer war aber dagegen und Deutschland blieb im Gegensatz zu Österreich geteilt. Aktiv war Österreich in seiner Neutralitätspolitik. Bundeskanzler Bruno Kreisky nutzte diese Stellung für globale Aktivitäten. Internationale Organisationen siedelten sich in Wien an, Gipfeltreffen fanden statt.

Nach dem Ende des Kalten Krieges ergibt sich für Österreich die Chance einer engagierten Neutralitätspolitik. Bei internationalen Friedensoperationen des Bundesheeres kann Österreich glaubhaft demonstrieren, dass es nicht im Interesse eines Bündnisses oder einer Großmacht handelt. Österreich hat keine geopolitischen Interessen. Wenn sich Österreich bei einer Mission zum Schutz von Zivilisten beteiligt, wie in  verschiedenen afrikanischen Ländern, geht es nicht um Öl oder Stützpunkte. Der Flüchtlingsstrom hat deutlich gemacht, wie notwendig diese Stabilisierungseinsätze im Süden sind. Natürlich kann Österreich nicht alleine  handeln. Im Rahmen der UN, der EU oder als Nato-Partner setzt Österreich etwa 1100 Soldaten und  Soldatinnen ein.

Engagierte Neutralität ermöglicht es auch, im Abrüstungs- und Nichtverbreitungsbereich deutliche Akzente zu setzen. Der wohl größte Erfolg der österreichischen Außenpolitik war das „Wiener Abkommen“ über das iranische Nuklearprogramm am 14. Juli 2015. Wien wurde von sechs Weltmächten und dem Iran als Verhandlungsort akzeptiert. Das wurde aber auch deshalb möglich, weil die österreichische Diplomatie Teheran jahrzehntelang die österreichische Neutralität glaubhaft vermittelt hat. Österreich hat auch eine Initiative über die Ächtung von Nuklearwaffen ergriffen. Ein derartiger Aufrufwurde von mehr als 120 Staaten unterzeichnet. Kein Mitglied des Militärbündnisses Nato, das weiterhin auf  nukleare Abschreckung setzt, noch ein anderer Nuklearwaffenstaat könnte derart aktiv werden.

Sowohl im  Bereich der Friedenseinsätze als auch auf dem Gebiet der  Abrüstung hat Österreichs engagierte Neutralität einen entscheidenden Vorteil gegenüber Bündnisstaaten. Sie bietet für Politiker eine Plattform, die für internationale Aktivitäten genützt werden kann. So etwas darf nicht leichtsinnig aufgegeben werden, wie es Gegner der Neutralität unbedacht fordern. Engagierte Neutralität bedeutet nicht Heraushalten, wo möglich, und Einmischen, wo nötig, sondern umgekehrt: Einmischen, wo möglich, und Heraushalten nur, wo nötig.

Der Artikel in der Kleinen Zeitung