Das kleine, 1941 gegründete Kinderspital, das von den Ärztinnen Dr. Fanny Reiter und Dr. Sala Weitz geleitet wurde, war die einzige Institution, in dem kranke jüdische Kinder und „Mischlingskinder“ behandelt werden durften. Hierher wurdne auch die kranken Kinder aus dem Kinderheim in der Tempelgasse 3 – von den Nazis in Mohapelgasse umbenannt – gebracht. Nach 1942 war dieses „Kinderheim des Ältestenrates der Juden in Wien“ das einzige Heim, in dem nach der Zwangsschließung anderer jüdischer Fürsorgeeinrichtungen, wie die Unterkunft für jüdische Säuglinge und Kleinkinder in der Unteren Augartenstraße 35, jene alleinstehenden jüdischen Kinder und Jugendlichen, die von den großen Deportationen bis Ende 1942 verschont geblieben waren, untergebracht werden konnten. Wie das jüdische „Kinderspital und Ambulatorium“ sollte es bis 1945 bestehen bleiben.
Viele Jahrzehnte später, im Jänner 2007, lernte ich in New York George Langnas, Mignons Sohn, kennen. Er vertraute mir Kopien der Aufzeichnungen seiner Mutter – Tagebücher und Briefe – an, und nach dreijähriger Forschungsarbeit konnten wir diese gemeinsam veröffentlichen.
Durch Mignon Langnas hatte ich also indirekt vom Kinderheim und Kinderspital erfahren, und das Schicksal ihrer kleinen Patientinnen und Patienten, die in einer schutzbedürftigen Phase ihres Lebens einer feindlichen Umgebung und großem Elend ausgesetzt waren, berührte mich und veranlasste mich dazu, mehr über die Lebensumstände dieser Kinder zu erfahren.
Mignon pflegte nicht nur kranke Kinder, sondern sendete nach deren Deportation nach Theresienstadt auch Lebensmittelpakete an viele ihrer ehemaligen Schützlinge. Darüber geben Dutzende Bestätigungspostkarten aus Theresienstadt, die im Nachlass von Mignon erhalten waren, Aufschluss. George Langnas übergab diese Postkarten dem Holocaust Museum in Washington, D.C,. und wenige Wochen später erhielt er eine Benachrichtigung: Unter den zahlreichen Absendern fand sich auch Kurt Gutfreund, ein ehemaliger Patient Mignons, der Theresienstadt überlebt hatte und nach Chicago ausgewandert war, wo er noch heute lebt. George und Kurt lernten sich in New York kennen, und durch Kurt lernten George und ich 2008 die in New York lebende Edith Taussig kennen, die eine der Pflegerinnen, von den Kindern als „Tanten“ bezeichnet, im Kinderheim war und Kurt als Kleinkind bei der „Aktion Gildeemester“ betreut hatte. Edith, bzw. Ditta, wie sie von Freundinnen und Freunden genannt wird, war mit ihren 16 Jahren, als sie ins Kinderheim kam, selbst noch ein halbes Kind, musste aber sehr schnell erwachsen werden.
Die Begegnung mit Ditta war der eigentliche Ausgangspunkt für meine Forschungsarbeit über das Kinderheim. Ditta besitzt nicht nur eine fabelhafte Erinnerung an ihre Zeit als Erzieherin im Kinderheim und an viele Kinder, sondern hat auch zahlreiche Fotografien von Kindern, Pfelgerinnen und Pflegern, die trotz eines 1941 veröffentlichten Gesetzes, das jüdische Menschen dazu verpflichtete, Fotoapparate abzugeben, noch bis 1943 gemacht wurden und Zeugnis ablegen vom jüdischem Leben in Wien während der NS-Zeit.
Durch Ditta konnte ich einige ehemalige Pfleglinge des Kinderheims ausfindig machen und führte mit ihnen im Verlauf mehrerer Begegnungen bewegende Gespräche. Diese Gespräche bzw. narrativen Interviews stellen das Kernstück dieser Projektwebsite dar. Die auf Video aufgezeichneten und anschließend transkripierten Gespräche beleuchten historische Themen und Ereignisse aus einer sehr persönlichen Perspektive und spiegeln die kindliche Erfahrungswelt wider. Für meine Gesprächspartenrinnen bzw. meinen Gesprächspartner waren diese Begegnungen nach vielen Jahrzehnten die erste intensive Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit.
[Fortsetzung]
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