Lehre

Deserteure des Vernichtungskriegs

In der Literaturwissenschaft gibt es im Zusammenhang mit der Frage des Historischen Romans den Zugang, von einer 'historisierbaren Realität' zu sprechen, die sich von der rein 'erzählbaren' darin unterscheide, dass sie einer kritischen Bewertung durch den Autor unterzogen wurde und sein Text zum Historischen somit mit dem Blick der Gegenwart etwas zu sagen hat, statt es nur als Kulisse zu gebrauchen. Der italienische Kulturkritiker Leonardo Sciascia spricht im Spiel mit der Polysemie des italienischen Wortes presente von einer Vergangenheit, die dadurch Präsens, also präsent wird, in Abgrenzung zu einem Interesse der Gegenwart und ihrer Diskurse, sich in die Vergangenheit einzuschleichen. Dass die Vergangenheit unsere Gegenwart macht, ist ein Gemeinplatz, dass unsere Gegenwart aber Motivation, Perspektive und potentielle Nutzbarmachung im Umgang mit dem Vergangenen prägt, wird gern als 'zweite Natur' der Rückschau verunsichtbart und demnach mit all seiner politischen Implikation unterschlagen.

Vergangenheits-Politik also – sie unterliegt „einer ständigen Interpretation und Deutung der Vergangenheit unter aktuellen politischen Zielsetzungen“, schreibt der Politologe Hannes Metzler und konstatiert dabei das gänzliche Fehlen einer „umfassende(n) Theorie von Vergangenheitspolitik“, die sich von „Vergangenheitsbewältigung“ darin unterscheide, dass es letzterer um den (selbstreinigend intendierten) Umgang einer Gesellschaft mit ihrer unrühmlichen Vorgeschichte geht, auf der sie jedoch unentrinnbar gründet: „Was vergangen ist, kann nicht bewältigt werden“.

Dies ist der Ausgangspunkt eines nun erschienenen Buches, in dem Metzler die unterschiedlichen Geschichten der Rehabilitierung von Deserteuren der Wehrmacht in Deutschland und Österreich aufarbeitet. Der Autor ist MALMOE-LeserInnen schon aus einer abgedruckten Gesprächsrunde zum Thema bekannt, in der er unter anderem von dem Erlebnis erzählte, dass sogar die Frau eines von ihm im Rahmen des Forschungsprojektes „Österreichische Opfer der NS-Militärgerichtsbarkeit“ befragten Wehrmachtsdeserteurs sich abschätzig über das Verhalten ihres Mannes geäußert hat. Dies war und ist das Klima der österreichischen Gesellschaft, die die großen Debatten um ihr Gedächtnis bereits geführt zu haben meint. Im Jubiläumsjahr 2005 wurde hier – in einem Deal mit der Bedienung der 'Trümmerfrauen’ – das sogenannte Anerkennungsgesetz beschlossen, womit eine sehr kurze Form der Aufarbeitung, die gerade mal sechs Jahre gedauert hatte, zum Abschluss gebracht wurde: „zur Überraschung aller Beteiligten“. In Österreich wurde per Parlamentsbeschluss, gewissermaßen „von oben“, wie Metzler schreibt, „im Zeitraffer“ eine Entwicklung vollzogen, die in Deutschland Jahrzehnte gedauert hatte. Dieser und zahlreiche andere Unterschiede zwischen den Nachfolgestaaten des volksgemeinschaftlichen Vernichtungsapparats sind zentrale Lehren aus der ausgesprochen detail- und kenntnisreichen, aber nie überfrachteten vergleichenden Analyse, die der Band bietet. Es geht weitaus weniger um die historische Aufarbeitung der Geschichte der Wehrmachtsdeserteure, als eben um jene ihrer Rehabilitierung und – möglichweise ist das noch aufschlussreicher – der Widerstände dagegen.

Denn zwei Erkenntnisse ergeben sich aus dieser Anerkennung: Zum einen unterminiert sie den gepflegten Heldenstatus derer, die brav im Vernichtungsfeldzug mitmarschiert sind, zum anderen wirft sie ein anderes Licht auf die Wahrnehmung des Jahres 1945: Wenn man nämlich die 'Befreiung' nicht – wie in Österreich unverhohlen Usus – erst 10 Jahre später verortet, dann ist die Desertion aus der Wehrmacht schlicht als ein Akt des Widerstands zu werten (wie es etwa in Luxemburg geschieht, wohin ein Exkurs des Buches führt). Interessanterweise ist just diese Frage keine, die Metzler in seiner Arbeit gestellt wissen will, und man erfährt bei aller transparent gemachten wissenschaftstheoretischen Reflexion nicht, weshalb. Metzler, mittlerweile Administrator des Personenkomitees „Gerechtigkeit für die Opfer der NS-Militärjustiz“, versteht sich als 'Lobbyist' in dieser Angelegenheit, und schon im erwähnten MALMOE-Gespräch hat er sich in diesem Sinne konziliant gezeigt, wenn es darum ging, die kleinen, meist nur auf symbolischer Ebene erzielten Erfolge bei der Rehabilitierung gewissermaßen beisammenzuhalten. Diese interessensgeleitete Diplomatie steht politisch sehr deutlichen Aussagen gegenüber, wenn er etwa treffend davon gesprochen hat, dass der braune Stammtisch integrativer Teil dessen ist, was österreichisch ist. Oder, wenn er just diesem Zitat das Schlusswort seines Buches erteilt: „Widerstand entsteht aus Desertion.“

Metzler, Hannes: Ehrlos für immer? Die Rehabilitierung der Wehrmachtsdeserteure in Deutschland und Österreich. Mandelbaum Verlag, Wien 2007

Erschienen in MALMOE #38 (Juli 2007)

 

Nach oben