Lehre

Namen und Texte, turns und peer groups

4 Varianten des kulturtheoretischen Einstiegs

Als im Dezember in Wien eine Austromarxismus-Konferenz mit dem klingenden Untertitel „Vision – Politik – Bewegung – Kultur“ über die Bühne ging, staunte man nicht schlecht, dass von 15 inhaltlichen Panels nicht eines dem Thema Kultur im engeren Sinne gewidmet war. Was auch immer die Gründe dafür gewesen sein mögen, und so sehr die veranstaltenden MarxistInnen sich damit in eine alte Tradition der Unbeholfenheit im Umgang mit dem Kulturellen eingeschrieben haben, es ist in jedem Fall sachlich schlicht unhaltbar, die austromarxistischen Kulturstudien derart unter den Tisch fallen zu lassen. Dies ist auch einer letztens erschienenen, sehr lesenswerten Untersuchung von Günther Sandner mit dem Titel Engagierte Wissenschaft zu entnehmen, die eben diese Kulturstudien mit den frühen britischen Cultural Studies in Bezug setzt. Das Buch findet hier deshalb Erwähnung, weil sich die einzelnen Kapitel auch vortrefflich als Einführung in die Materie gebrauchen lassen.

Nun sind zwar die Welten nicht gering, die zwischen den Cultural Studies und dem liegen, was im deutschen Sprachraum unter dem Label Kulturwissenschaften so alles sich tummelt, doch kann als verbindend zumindest festgehalten werden, dass am Beginn der jeweiligen wissenschaftlichen Paradigmenwechsel eine folgenreiche Reformulierung des Kulturbegriffes steht, und zwar im Sinne einer Erweiterung. Die von marxistischen Anliegen und Prämissen inspirierten Cultural Studies führt diese Auseinandersetzung zum dialektischen Verhältnis von Sein und Bewusstsein, und Kultur wird – mit Gramsci gesprochen – in Basis und Überbau verortet, während die unpolitischeren 'Kulturwissenschaften’ die Auseinandsersetzung mit mentalen Dimensionen von Kultur oder gesellschaftlichen Sinngebungen bemerkenswerter Weise nicht an Gramsci denken lässt. Dennoch steht der cultural turn in den Geisteswissenschaften, der Kulturtheorie somit stärker zu einer Wissenschaft des Sozialen macht, für eine Abkehr von positivistischen und ökonomistischen Denkstrukturen.

Wenn das Symbolische am Sozialen, 'Kultur als Text’ wahrgenommen wird, dann stellt ein solcher turn keine additive Erweiterung des Forschungsfeldes dar, sondern werden wissenschaftliche Perspektiven als solche verschoben, und die damit erschlossenen Gegenstände selbst zur neuen Analysekategorie, wie Doris Bachmann-Medick in Cultural turns schreibt: Es „kommt zu einem entscheidenden Wechsel der kategorialen Ebene oder gar zu einem konzeptuellen Sprung“. Dieses Umschlagen wird sieben turns zugeordnet, etwa einem postcolonial oder spacial turn, um die gängigsten Beispiele zu nennen (s. Interview). Dieser Sprachduktus ist Geschmackssache, und nicht immer ist die Sortierung der Ansätze und Debatten in dieses Raster ganz stringent, doch macht das Buch die kulturwissenschaftlichen (methodologischen) Debatten der letzten Jahrzehnte gut zugänglich und ermöglicht damit einen qualifizierten Ausblick auf weitere Entwicklungen.

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Einen traditionelleren Weg der Einführung scheint hingegen Wolfgang Müller-Funk in seiner Kulturtheorie zu beschreiten, die nach Methoden und Fragen sowie deren Vertretern sortiert ist. Doch nur auf den ersten Blick: Denn der Autor präsentiert Themen wie „Psychoanalyse“ oder „Kritische Theorie als Kulturtheorie“ nicht über die x-te Einführung in Freud oder Benjamin, sondern stellt einzelne ausgewählte Schlüsseltexte äußerst detailliert vor und bietet damit jeweils gut lesbare konzise Einstiege über geschickt ausgerichtete Schlaglichter auf das Werk. Müller-Funk bekennt dabei, sowohl Autoren wie auch Texte sehr subjektiv gewählt zu haben, womit es nicht „nicht nur eine, sondern seine Einführung“ ist. Die Präsentationen sind jeweils mit einem kleinen Anhang möglicher Kritikpunkte versehen, „weil Kritik das konstituierende Prinzip von Wissenschaft und gesellschaftspolitischer Praxis ist.“ Der Anspruch aber – kann man hier kritisch einwenden –, Präsentation und Bewertung ganz voneinander zu trennen, kann nichts als fiktiv sein, und er wird auch an vielen Stellen des Buches nicht eingelöst. Nicht unproblematisch ist die Selektion zudem, wenn davon auszugehen ist, dass ein solcher Band von Studierenden selbstverständlich wie ein herkömmliches Überblickswerk benutzt wird: Sie kriegen dann etwa einen guten Einblick in Stuart Halls kritische Auseinandersetzung mit seinem theoretischen Background, würden aber z.B. nie erfahren, dass die Cultural Studies nicht nur im Umfeld der Erwachsenenbildung entstanden sind, sondern sich auch intensiv mit Arbeiterbildung und deren Zusammenhang mit radikaler Politik auseinandersetzten.

Diesem Komplex widmet Günther Sandner hingegen in seinem erwähnten Vergleich breiten Raum, und gerade die Formierung eines Theoretikers wie Raymond Williams, der das Zusammenwirken von kultureller Theorie und Praxis stets im Auge hatte, wird dadurch erst schlüssig: bei ihm ist das Politische kulturell, und „culture a whole way of life“. Diesen gern zitierten Slogan machen auch die HerausgeberInnen von Culture Club II zum Motto ihrer Kompilation, mit der sie an den überaus erfolgreichen ersten Teil anschließen und nun unter der thematischen Klammer der Klärung des Kulturbegriffes weitere 16 Portraits von Klassikern der Kulturtheorie nachreichen, die es „allemal verdient haben“, in den Club aufgenommen zu werden. Da das Sequel aber nicht von vornherein geplant war, wirft das freilich ein eigentümliches Licht auf Band 1, damit teilen diese Bücher das Dilemma aller mehrteiligen Best Of-Compilations. Fortgesetzt wurde die geschickte Auswahl der PräsentatorInnen: wenn auch die Paarungen vom ersten Teil (Theweleit über Freud, Treusch-Dieter über Butler) nicht zu toppen waren, so hat es doch verlässlich Hand und Fuß, wenn nun etwa Roman Horak über Williams oder Rolf Lindner über Hoggart schreibt: heraus kommen so zugängliche wie kompetente Kurzeinführungen.

Der Culture Club ist ein Bestseller, die Cultural turns schon in der zweiten Auflage, und auch die Kulturtheorie geht dem Vernehmen nach weg wie nix: Diese Einführungen boomen, und trotz ihrer Qualität nährt das den unangenehmen Verdacht, dass damit eine Wikipädisierung des kulturwissenschaftlichen Nachwuchses zum Ausdruck kommt. Angesichts des nicht ganz unbegründeten Vorurteils vom eklektizistischen theoretischen Dünnbrettbohren in den Cultural Studies kein angenehmer Gedanke.

Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. 2. Aufl. Rowohlt, Reinbek 2007
Hofmann, Martin L. u.a. (Hgg.): Culture Club II. Klassiker der Kulturtheorie. Suhrkamp, Franfurt a.M. 2006
Müller-Funk, Wolfgang: Kulturtheorie. Einführung in Schlüsseltexte der Kulturwissenschaften. Francke, Tübingen u.a. 2006
Sandner, Günther: Engagierte Wissenschaft. Austromarxistische Kulturstudien und die Anfänge der britischen Cultural Studies. LIT-Verl. Wien u.a. 2006

Dieser Text erschien in MALMOE #38/2007 als Teil des Schwerpunkts Engagierte Wissenschaft

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