©В.И.
Ленин на выступает на III конгрессе
Коммунистического интернационала.
Lenin spricht auf dem
III. Kongress der
Kommunistischen Internationale,
Bild: Wikimedia Commons – State
museum of political history of Russia
Wer prüft die Prüfer? Von
den Blue-Chips der
Wissenschaft
In
Erinnerung an Pierre Bourdieu und Michel Foucault
von
Alessandro Barberi
>>Lenin sollte auf
Drängen des marxistischen
Teils
der
Studentenschaft drei Vorträge
an der Ecole des hautes
études halten,
die in Paris
von vertriebenen
russischen
Universitätsprofessoren organisiert wurden […].
Ich entsinne
mich, daß Wladimir Iljitsch
vor seiner
ersten Vorlesung sehr aufgeregt war.
Auf dem Pult
jedoch beherrschte er sich sogleich –
mindestens
äußerlich. Professor Gambarow, der gekommen war,
ihn zu
hören, formulierte Deutsch gegenüber seinen Eindruck
derart:
>Ein
richtiger Professor!<
Das hielt er
wohl für das höchste Lob.<<
(Leo Trotzki, Mein Leben; zit. nach
Pierre Bourdieu, Homo Academicus)
>>Man wird also
dazu gebracht, Marx zu
anthropologisieren,
aus ihm
einen Historiker der Totalitäten zu machen
und in ihm
das Vorhaben des Humanismus zu finden […].
Die gleiche
konservative Funktion ist bei dem Thema
kultureller
Totalitäten am Werk, weswegen man
Marx
kritisiert und dann verfälscht hat
[…].<<
(Michel Foucault, Archäologie des
Wissens)
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I
Kybernetische Selektionsmaschine Universität

© The
Elephant Man, David Lynch (1980), Bild:
BrooksfilmsLudek
Kovar
Das
Erziehungs- und
Bildungssystem stellt – vom Kindergarten bis zur
Universität – ein Dispositiv
der Unterwerfung dar, das den proletarischen und
kleinbürgerlichen Spreu vom
bürgerlichen und mehr noch aristokratischen Weizen trennen
muss und zu trennen
hat. Im brutalen Kampf um Anerkennung
werden – nicht zuletzt über die
„bürokratische Taufe des Wissens“ (Marx)
per
Titelvergabe – politische Selbstzensur und der Befehl zum
politischen
Kompromiss mikrophysikalisch in die sozialen Felder des Wissens
integriert und
regeln so noch die Art und Weise, in der akademisierte Subjekte
zugleich schreiben,
unterwerfen und d. h. gesellschaftliche Unterdrückung
ausüben. Akademische
Herrendiskurse verwalten und zerschneiden vertikal so wie horizontal im
Sinne
einer rechten und d. i.
neoliberalen Regierungsmentalität die Figurationen des
Gemeinsamen, Solidarischen
und Kooperativen ebenso wie die legitimen Ansprüche auf
Mitsprache und
demokratische Umverteilung von Diskurs und Eigentum des Wissens.
Diagonaler Widerstand und
transversaler
Widerspruch werden dabei politisch pathologisiert,
gerastert, herrisch erniedrigt, unter Verdacht gestellt und exkludiert.
Die
universitäre Rede – hergestellt in einem empirisch
messbaren ideologischen
Produktionsfeld
– ist
damit immer schon von betriebswirtschaftlichen Mechanismen
durchsetzt, in denen Inklusion und Exklusion im
Sinne eines kybernetischen Ein- und Ausschaltens von subalternen und
d. i. (kleinbürgerlichen und mehr noch
proletarischen) infamen
Leben
implementiert sind. Dabei
greifen die wissenschaftlichen AkteurInnen als Regulatoren des Wissens tief und
brutal in die Lebenszyklen und
Lebenswelten der Menschen, der Familien und damit der
Bevölkerungen ein,
transformieren den Gesellschaftskörper und folgen gerade
deshalb den
kapitalistischen Konjunkturen und Zyklen der Märkte wie die
Pariser Haute
Couture:
Manchmal sind die Röcke der
Wissenschaft kurz und manchmal sind sie lang, hielt Bourdieu
diesbezüglich
treffend fest. Nachweisbar wird so, nach welchen Regeln die Kategorien des
professoralen Verstehens innerhalb
dieses (Finanz-)Marktsystems des akademischen Wissens funktionieren.
Nachweisbar
wird auch, dass sie im Gegensatz zur theatralischen Selbstinszenierung
eher
Dummheit reproduzieren. Die kybernetische
Selektionsmaschine
der professoralen Klassifikationen besteht als Bewertungsmaschine nach Bourdieu
tatsächlich
aus Rituellen
Beschimpfungen und
Blütenlesen
des Stumpfsinns,
die auch
als Diagramm darstellbar sind und von denen gesagt werden kann:
„Das
Diagramm lässt sich als Schema einer Maschine [sic! A.B.]
ansehen, die mit
sozial bewerteten Produkten gefüttert wird, um dann schulisch
bewertete
Produkte auszuspucken. Allerdings fällt bei dieser
Betrachtungsweise ein
wesentliches Moment der von ihr geleisteten Transformation unter den
Tisch:
Tatsächlich sorgt diese Maschine [sic! A.B.] für eine
enge Korrespondenz
zwischen Eingangsbewertung und Ausgangsbewertung, ohne je die sozialen
Kriterien und Prinzipien der Bewertung zu kennen oder auch (offiziell)
anzuerkennen. [sic! A.B. …] Sie funktioniert
gemäß der Logik der Verneinung
– sie tut das, was sie tut,
unter Formen, die zeigen sollen, daß sie es nicht
tut."
(Vgl. Bourdieu, Pierre (1988): Homo
Academicus, Suhrkamp: Frankfurt/M., 363–364)
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II Von intellektuellen Hitparaden und rollenden
Köpfen

© TheLife
of David Gale, Alan Parker (2003), Bild: Universal
Diese
maschinenartigen
Verneinungen und Verwerfungen werden von autoritären
Charakteren, von „Zombies“
(Deleuze/Guattari) also in Gang gesetzt, deren Haupttätigkeit
darin besteht,
die sozialen Bedingungen der
Wissenschaft und des Wissenschaftsbetriebs systematisch auszublenden.
Wer
richtet also, fragte Prof. Bourdieu, angesichts der
„Hitparade der
Intellektuellen“ über die
„Legitimität der Richter“? Und wer wagt
es, sich an
der Universität am Naheliegendsten – namentlich an
der illegitimen Herrschaft der
professoralen Machtausübung – zu vergreifen, wenn
nach der jahrelangen
infantilisierenden Überwachung
die Strafe ganz einfach
„subjective(n)
Verfolgung“ (Karl Kraus) heißt?
Der
Gegenschlag der feudalen Geistesaristokratie
– vor der in diesem Teilfeld der (deutschen) Gesellschaft
sogar die
Bürgerlichen buckeln –, der Gegenschlag ist so
sicher und total(itär) wie ein
Todesurteil oder eine Vierteilung. Letztere ist nachweislich auch
historisch an
die Aristokratie, das Ancien Régime
und
den „Speckkopf Ludwigs XVIII.“ (Marx)
geknüpft. Ist also – wie Foucault meinte
– der Kopf des (universitären) Königs (auch
in der juristischen Theorie) noch
nicht gerollt? Ist mithin die wissenschaftliche Community
angesichts dieser Repräsentations-,
Klassifikations- und
Deklarationskämpfe nichts anderes als eine kapitale
ideologische und ideologisierende Fiktion,
welche den Zwist der professoralen Eitelkeiten im Namen der
(unkritischen und
daher theologischen) Wahrheit verdecken soll? Rein rhetorische Fragen.
Denn
wer an dieser Stelle
Störfunktionen, Fehlzündungen oder
Gegenschläge vorbereitet, wer also versucht,
diesen „Willen zum Wissen“ (Foucault) und zur
Wahrheit umzubiegen bzw. demokratisch
– und d. h. immer auch glasklar antikapitalistisch
– umzupolen, findet sich schnell in den Schandklassen
der vermeintlich um Erkenntnisinteressen
ringenden Wissenspolizisten wieder,
die bei Tag und bei Nacht ihrerseits
unbewusst darum kämpfen, ihre (symbolischen) Kapitalien an
ihren
machiavelli(sti)schen Fürstenhöfen zu steigern, um
sich (daher auch die
alltagssprachliche Rede vom „Hirnwichser“) am
Untergang des Anderen (d. h. Konkurs
oder Ausgleich) aufzugeilen.
Sadomasochistische Spiralen der Macht mithin.
Die zwei Körper des Professors … und der zerfetzte
Körper Damiens vor Notre-Dame.
Beinharte und herrschende Ideologie ist es deshalb, die unpolitische
und objektive
Neutralität der Wissenschaft auch nur anzunehmen.
Eine Annahme, die erst
recht den Blick auf die Brutalität der Auslese verstellt.
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III
Militante Geistesaristokratie der Wissensmärkte

©
Inception, Christopher Nolan (2011) Warner Brothers
Nach
wie vor gilt also: Die Geschichte
(des Wissens) ist eine Geschichte von Klassenkämpfen, die in
unseren
Schulklassen beginnen. Die Universität ist dabei nichts
anderes als eine
„Staatsmaschinerie“ (Marx), ein
„ideologischer Staatsapparat“ (Althusser) des
Wissens und als solche(r) ein Instrument der herrschenden Klasse.
Wissensgeschichte
verfügt sich mithin sehr genau mit der Geschichte und
Gegenwart des Kapitalismus.
Wenngleich sich der soziale und mediale Raum der Universität
von anderen
Institutionen sozialgeschichtlich dadurch unterscheidet, dass der
Bourgeoisie
seitens der Aristokratie erfolgreich Widerstand entgegengesetzt wurde.
Deshalb
gilt als oberster Fixpunkt in diesem Wahrheitsspiel –
vornehmlich in den
deutschen Bildungsanstalten – die Aristokratie
des Geistes, deren Burschenschafterhiebe mit aller
(deutschen) Härte tief
ins Fleisch des Sozius schlagen und Schmisse, Wunden im
Gesellschaftskörper des
(universitären) Proletariats (d. h. Kognitariat bzw.
Prekariat) hinterlassen.
Was
geht den akademisierten Geistesaristokraten
denn ein so niedriges Thema wie soziale Ungleichheit an, wenn in Frage
steht,
was Goethe meinte? Was schert er sich um die Lebenswelten von
Arbeitslosen oder
den Ausgleich von gesellschaftlichen Unterschieden, wenn er gerade
einen
(göttlichen) Ruf erhalten hat? Was interessieren ihn die
sozioökonomischen
Problemlagen der Lohnabhängigen, wenn er als Diva beim
Vorsingen im feudal-bürgerlichen
Theater so endlos berauschenden Applaus durch Stellenerhöhung
– und d. i. Akkumulation
von Kapital –
erhielt? Weshalb sich also um das Elend der Welt kümmern,
wenn es doch um das eigene philosophische Elend geht? Weshalb sich in
die
Niederungen des Sozialen oder gar des Sozialismus begeben und sich zum
Alltag
des Pöbels herablassen?
Die
akademischen Blue Chips dieser
herrschenden Klasse,
das sind – darin durch nichts von
in
der Hölle gelandeten feudalen Bankstern á la Richard Severin Fuld Jr. von Lehman
Brothers zu unterscheiden – die Aktien der
Publikationen und die an
American Football erinnernden Rankings der (vermeintlichen)
Elite-Universitäten. Rankings, Publikationslisten, Nachrufe
und Stellungs- bzw.
Postenkriege sind insofern nichts anderes als Spiegelungen der Macht-,
Herrschafts- und Kräfteverhältnisse der
Wissensproduktion. Und genauso müssen
sie gelesen, dechiffriert und decodiert werden. Apple
oder Harvard, HSBC
Holding oder Oxford, Siemens oder RWTH
Aachen, Nestlé
oder ETH Zürich, OMV oder WU Wien
… Am (bzw.
kurz vor seinem) Ende macht der Kapitalismus mit seiner militanten
Trennung von
Wissenschaft und Politik alle(s) gleich und alles platt.
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IV
Unterdrückte Unterdrücker als CEO's

© Pink Floyd – The Wall, Alan Parker
(1982),
Bild: Goldcrest Films International/Metro-Goldwyn-Mayer (MGM)/Tin Blue
Die
europäischen
Bildungsinstitutionen sind mithin klassenspezifische
Hirnmarterungsstätten und
kafkaeske Strafkolonien der moralisierenden Einschreibung, die
veraltete, stupide
und (scheinbar) unpolitische Wissensformen in die Körper
einbrennen und von
Kindesbeinen an ein grausames und alptraumhaftes Gedächtnis
der Unterwerfung in
den Seelen verankern. Vielmehr ideologische
Einbildung als befreiende Bildung übertragend,
verkommen die Institutionen der Wissenschaft zu Exekutionsfunktionen
wirtschaftlicher Oberkommandos. Sie dienen – gerade in
Deutschland und
Österreich, den Ländern des verdrängten
Humanismus und der verzögerten
Aufklärung – dem Aufrechterhalten einer
über Jahrhunderte hin
eintrainierten und kapitalistisch eingehämmerten
konterrevolutionären und
feudalen Untertanenmentalität, die Sozialdisziplinierung
zu nennen im Grunde schon euphemistisch ist. Es geht vielmehr um das
Aufrechterhalten einer (höchst konservativen) Ordnung
angesichts der geringsten
Möglichkeit einer demokratischen Revolution. Und Revolution,
das wäre schon,
wenn die (angeblich) Schwächeren gemeinsam ihre Stimme erheben
würden.
Um
Thomas Bernhards auf österreichische
Schulen gemünzte Einschätzung mithin auf das gesamte
europäische Bildungssystem
auszudehnen, bleibt festzuhalten: Die
Ursache für all diese bildungspolitischen
Übel der Gegenwart sind eben die
„Geistesvernichtungsanstalten“,
die – frei nach Karl Kraus, der dies von der Sozialdemokratie
sagte – „staatliche
Institution(en) zur Vergeudung revolutionärer
Energie“ darstellen. Die vierte,
die fünfte, die sechste Walpurgisnacht? Lassen wir uns
Ähnliches von Foucault
sagen, der den Mut besaß, folgende Zeilen in eben jenem
Moment in den Mund zu
nehmen, in dem die Diskursgesellschaft des Collège
de France ihm – erstaunlich genug – eine
Professur verlieh:
„Die
Erziehung mag de jure ein Instrument sein, das in einer Gesellschaft
wie der
unsrigen jedem Individuum den Zugang zu jeder Art von Diskurs
ermöglicht – man
weiß jedoch, daß sie in ihrer Verteilung, in dem,
was sie erlaubt, und in dem,
was sie verhindert, den Linien folgt, die von gesellschaftlichen
Unterschieden,
Gegensätzen und Kämpfen gezogen sind. Jedes
Erziehungssystem ist eine
politische Methode [sic! A.B.], die Aneignung der Diskurse mitsamt
ihrem Wissen
und ihrer Macht aufrechtzuerhalten oder zu verändern.
[…] Es handelt sich hier,
mit einem Wort, um die großen Prozeduren der Unterwerfung des
Diskurses.
(Vgl.
Foucault, Michel (1996): Die Ordnung des Diskurses, Suhrkamp,
Frankfurt/M., 29–30.)
Ein
Diskurs, der immer innerhalb
einer gesellschaftlichen Klasse zu verorten ist und in ihr beginnt. Und
so
werden die akademischen Prüfer in der dogmatischen und
selbstverherrlichenden Doxosophie ihrer Funktion als
„unterdrückte Unterdrücker“
(Bourdieu) buchstäblich zu Wirtschaftsprüfern und
Rating Agenturen, die zumeist (den eigenen) Kindern aus
„gutem“ Haus ein Triple AAA verpassen. Auch sind es
die(se)
Manager und Verwalter des Wissenschaftsbetriebs, welche als Chief Executive Officers des Wissens
dafür Sorge tragen, dass keine politische Widerstands- oder
Subjektivierungslinie durchs Netz der akademischen Menschenfischer
geht.
Elitenselektion erfolgt dabei im Eilschritt und auf Kommando der Macht:
Jede/r
platziert an ihrem/seinem Ort, fixiert auf einen panoptischen
Standpunkt,
sistiert bis zum Sankt Nimmerleinstag des Jüngsten Gerichts,
an dem sich die
Wahrheit (der Wissenschaft) absolut offenbart. Die Erinnerung an den Mai 68 bzw. an die Tatsache,
dass die #unibrennt, unterliegt daher
mehrfacher
Verdrängung. Doch: Nie mehr Schule! und We don’t need
no education!
bleibt nach
wie vor eine aufgeklärte, notwendige und
revolutionäre Infragestellung des bestehenden Status Quo. Denn das Wissen um
Kritik
verpflichtet uns zum Ausgang aus der nicht nur von uns selbst, sondern
ebenso
von diesem Bildungssystem verschuldeten Unmündigkeit.