Textproben für Kinder | Prinzessin Emma und die acht Zwerge

Es waren einmal acht Zwerge, nicht sieben und nicht neun, sondern genau acht. Die lebten in einem Wald, der so dunkel war, dass sich keine Frau hineingetraute, und das war der Grund, warum sie nicht mehr wurden, denn so konnten sie nicht heiraten und keine Kinder bekommen. Andererseits ging es recht friedlich zu in diesem Wald, es gab in nächster Umgebung keine Riesen und keine bösen Hexen, und deshalb bestand auch kaum Gefahr, dass die Zwerge weniger wurden. Sie blieben immer genau acht, und jedes Mal, wenn sie sich zum Essen an den Tisch setzten, waren sie froh, dass sich die Plätze so gut aufteilen ließen: Einer übernahm den Vorsitz, der nächste Zwerg setzte sich ihm gegenüber, und die anderen sechs teilten sich zu je drei auf die Längsseiten der Tafel auf.
Nun geschah es aber, dass sich eines Tages eine junge Prinzessin in den dunklen Wald verirrte. Sie hatte Haare so schwarz wie Ebenholz, Lippen so rot wie Blut und eine Haut so weiß wie Schnee. Außerdem war sie etwas dicklich und hatte eine Hakennase. Die Zwerge nannten sie Emma, weil sie aussah wie jemand, der Emma heißt. Man kennt das ja: Manchmal trifft man jemanden und denkt sich, der müsste eigentlich Peter heißen oder Patrick oder Martin oder auch ganz anders, weil er nun einmal so aussieht wie jemand, der Peter heißt oder Patrick oder Martin oder auch ganz anders, und am Ende erfährt man dann, dass er wirklich Peter, Patrick, Martin oder auch ganz anders heißt. Nur Rumpelstilzchen heißt komischerweise niemand.
Unsere Prinzessin sah übrigens nicht nur aus wie eine Emma, die hieß auch wirklich so, und weil sie die Zwerge nett fand, blieb sie bei ihnen, kochte ihnen täglich Gemüsesuppe und Obstkuchen, wusch das Geschirr ab und hielt das Haus in Ordnung.
Eines Tages sprach Prinzessin Emma zu den Zwergen: "Ich komme jetzt in das Alter, wo man heiratet und Kinder bekommt, also sollte ich mir langsam einen Mann suchen."
"Nimm mich!" riefen die acht Zwerge im Chor, und jeder von ihnen streckte aufgeregt sein kleines Händchen empor.
"Das ist furchtbar lieb von euch", sagte die Prinzessin, "aber ich bin nun mal eine Prinzessin, und Prinzessinnen heiraten normalerweise keine Zwerge, sondern Prinzen."
Da waren die Zwerge enttäuscht, denn jeder von ihnen wäre gern Emmas Gemahl geworden, außerdem hatten sie beim besten Willen keine Ahnung, woher sie jetzt mitten im Wald einen Prinzen nehmen sollten. Aber dann kratzten sie sich unter den Zipfelmützen, strichen sich über ihre Bärte und rubbelten so lange an ihren Knollnasen, bis ihnen folgender Plan einfiel: Wenn es in diesem Teil des Waldes keine Prinzen gab, dann mussten sie eben ihre Wanderschuhe anziehen und sich auf die Suche machen. Irgendwo würden sie schon einen geeigneten Prinzen für Emma finden.
"Und wer pflückt mir die Früchte für den Obstkuchen?" fragte die Prinzessin. "Wer jätet die Gemüsebeete und hackt das Holz für den Ofen? Soll ich vielleicht verhungern und erfrieren?"
Das wollten die guten Zwerge nun wirklich nicht, also blieben drei von ihnen bei Emma zurück: einer zum Früchtepflücken, einer zum Jäten der Gemüsebeete und der dritte sollte das Holz hacken. Die anderen fünf machten sich auf den Weg.
Nach einer Weile kamen sie zu einer Lichtung, auf der ein großes, schwarzes Pferd stand. Es war an einen Pflock gebunden und suchte den Boden nach Futter ab.
"Guten Tag, liebes Pferd!" sagte Karl, der Anführer der Zwerge. "Kannst du uns vielleicht helfen? Wir suchen einen Prinzen."
"Früher pflegte ich einen auf mir herumzutragen", antwortete das Pferd, "aber er ist heruntergefallen und hat sich das Genick gebrochen."
"Wir dachten eher an einen lebenden Prinzen."
"Vielleicht kann euch die Hexe weiterhelfen."
Die Zwerge fragten nach dem Weg zur Hexe, aber das Pferd verlangte als Gegenleistung, dass einer der Zwerge zurückblieb, um ihm frisches Gras herbeizuschaffen, denn das arme Tier war viel zu kurz angebunden und hatte bereits alle Halme im Umkreis abgefressen.
So waren die Zwerge nur noch zu viert, als sie zu einem Haus kamen, das gänzlich aus Lebkuchen und Zuckerwerk bestand. Eine nette alte Frau sah beim Fenster heraus und begrüßte die Zwerge.
"Haben Sie vielleicht in letzter Zeit einen Prinzen vorbeireiten sehen?" fragte Karl.
"Weder reiten noch gehen", antwortete die alte Frau. "Ich sehe nämlich nicht mehr besonders gut, aber warum fragt ihr nicht die sprechende Eiche? Der Baum weiß doch auch sonst immer alles."
Die Zwerge bedankten sich für die Auskunft und wanderten weiter, aber nach einer Weile musste ihr Anführer feststellen, dass Hans und Gerd fehlten, und er konnte sich leicht vorstellen, was passiert war: Die beiden Schleckermäuler hatten sich unauffällig hinter das Knusperhäuschen geschlichen, um vom Zuckerwerk zu naschen, und dann hatten sie - absichtlich oder unabsichtlich - den Befehl zum Aufbruch einfach überhört. Als die Zwerge bei der sprechenden Eiche anlangten, waren sie nur noch zu zweit.
"Weißt du vielleicht, wo man hier einen Prinzen finden kann?" fragte Karl, der Anführer.
"Hier gibt es weit und breit keine Prinzen", antwortete der Baum, " aber die gute Fee kann dir bestimmt weiterhelfen."
Und weil der Baum sich beklagte, dass schon seit Jahren niemand mehr vorbeigekommen war und welche Verschwendung es sei, wenn ein sprechender Baum tagein tagaus nur mit sich selbst sprechen konnte, blieb Fritz, der ein ziemliches Plappermaul war, bei der Eiche, um ihr Gesellschaft zu leisten, während Karl nun ganz allein weiterwandern musste.
Er war schon ein gutes Stück durch den dunklen Wald gegangen, als plötzlich die gute Fee vor ihm stand.
"Du hast mich gefunden, kleiner Zwerg", sagte sie. "Nun hast du drei Wünsche frei."
Karl dachte kurz nach, dann erwiderte er: "Ich möchte gern ein junger, hübscher Prinz sein."
Die Fee winkte kurz mit ihrem Zauberstab und verwandelte den Anführer der Zwerge in einen stattlichen Prinzen mit Schuhgröße 43 und allem Drum und Dran.
"Und als nächstes hätte ich gern ein dreistöckiges Schloss mit 50 Zimmern, einen Park mit Swimmingpool, eine goldene Kutsche, 20 Diener und eine riesige Schlossküche, in der mir der Koch jeden Tag zwei warme Mahlzeiten macht - aber keine Gemüsesuppe und keinen Obstkuchen, weil die habe ich bis hier."
"Ich muss dich enttäuschen", antwortete die Fee. "Ich bin nicht der Geist aus der Wunderlampe. Wenn du möchtest, kannst du ein kleines Häuschen haben, etwas größer als das der Zwerge und nicht weit davon entfernt."
Der frischgebackene Prinz musste damit wohl oder übel zufrieden sein. Sein dritter Wunsch war ein schwarzer Frack und ein weißes Kleid für Emma. Die Fee legte noch zwei Ringe dazu, und so stand der Hochzeit nichts mehr im Wege.
Als Prinz Karl auf seinem Heimweg an der sprechenden Eiche vorbeikam, erzählte Fritz ihr gerade, wie man Unkraut jätet, welches Gemüse zu welcher Zeit geerntet wird und wie man daraus eine schmackhafte Suppe macht.
"Was für ein Plappermaul hast du mir da zurückgelassen!" rief die Eiche und verdrehte die Augen. "Während du weg warst, konnte ich gerade mal zwei Sätze von mir geben. Da spreche ich ja lieber mit mir selber!"
Der Prinz nahm den Zwerg wieder mit, und gemeinsam kamen sie an das Knusperhäuschen, wo die Hexe ihre Freunde mittlerweile in einen Käfig gesperrt hatte.
"Das sind mir vielleicht zwei Vielfraße!" beschwerte sich die Hexe. "Die haben mir die ganze Rückwand weggefressen."
Auch die Hexe war ziemlich froh, ihre Gäste loszuwerden, und jetzt waren unsere Wandergesellen schon fast wieder vollständig. Zum Schluss kamen sie noch auf die Wiese, wo das große, schwarze Pferd stand. Es war frisch gestriegelt und gut genährt und hatte sich mittlerweile so an die Pflege durch den Zwerg gewöhnt, dass es gern bei ihm bleiben wollte. Also banden sie es los und nahmen es mit.
Prinzessin Emma staunte nicht schlecht, als der Prinz mit den Zwergen angeritten kam. Sie feierten eine große Hochzeit, zu der alle Tiere des Waldes eingeladen wurden. Dann zog das junge Paar in das neue Haus, das jetzt neben dem der Zwerge stand, und an und für sich waren alle glücklich und zufrieden. Nur Hans, der sich als einziger gern mit Zahlen beschäftigte, murmelte noch manchmal traurig vor sich hin: "Jetzt sind wir nicht mehr acht, das war so eine schöne Zahl, und wir sitzen auch nicht mehr so regelmäßig verteilt um den Tisch. Sieben Zwerge sind irgendwie einer zu wenig."
"Ach was!" erwiderte Fritz. "Du wirst sehen, mit der Zeit gewöhnt man sich daran."

Erstmals erschienen in:
Märchenzauber
2003, Storyolympiade
ISSN 1618-9647-Bd6
(vergriffen)

 

 
Copyright © Richard Rode, 2006