Textproben für Erwachsene | Der neue Job

Ihre Hände zitterten leicht, als sie aus der U-Bahn stieg, und sie musste sich eingestehen, dass sie Angst hatte. Eigentlich hätte sie zufrieden sein müssen, dass man sie seit langem wieder einmal zu einem Bewerbungsgespräch einlud, wo sie doch normalerweise auf ihre Briefe nicht einmal mehr Absagen erhielt. Aber sie hatte nur Angst - Angst vor einer neuerlichen Enttäuschung, die sehr wahrscheinlich war, denn mit 47 war sie für die meisten Jobs einfach zu alt.
"Medizinisch-pharmazeutisches Labor sucht Schreibkraft als Assistentin des Laborleiters", hatte es im Inserat geheißen. Nach einer von den Tabletten, die ihr der Arzt verschrieben hatte und ohne die sie sich antriebslos und leer fühlte, hatte sie die Bewerbung geschrieben, eine von vielen. Sie schrieb immer noch jeden Tag zwischen zehn und zwanzig Briefe.
Die finanziellen Sorgen trieben sie voran. Ihre Miete hatte sie sich schon von dem mickrigen Gehalt, das ihr Doktor Schreber zahlte, kaum leisten können, aber jetzt, mit dem Geld vom Arbeitsamt - viel zu wenig übrigens, wer hätte gedacht, dass es so wenig sein würde - überstiegen die Fixkosten bei weitem ihre finanziellen Mittel. Wenn es so weiter ging, würde sie die Wohnung aufgeben müssen. Sie war für eine Person sowieso viel zu groß. Insgeheim hatte sie halt doch damit gerechnet, wieder eine fixe Beziehung einzugehen, und jetzt kam sie langsam in ein Alter, wo man sich darauf einstellen musste, den Lebensabend allein zu verbringen. Außerdem wusste sie selbst, dass sie nicht sehr kontaktfreudig, ja eher verschlossen war. Wenn sie ihre Nachbarn auf dem Gang traf, grüßte sie, wechselte auch manchmal ein paar belanglose Worte, aber ansonsten blieb sie lieber für sich. Vor allem jetzt, seit sie arbeitslos war. Ihren Freunden und Bekannten gegenüber genierte sie sich, also hatte sie schon monatelang niemanden mehr angerufen, und mittlerweile rief auch sie niemand mehr an.
18, 20. Nummer 33 war auf der anderen Straßenseite. Als sie die Straße überquerte, riss sie plötzliches Reifenquietschen aus ihren Gedanken. Sie hatte das Auto völlig übersehen, und es hatten nur zwei, drei Meter gefehlt, dann wäre sie auch noch überfahren worden. Der Autofahrer zeigte ihr den Vogel, dann fuhr er weiter.
Wie nah man doch täglich dem Tod ist! Ein unachtsamer Schritt und die Existenz, die man selbst so wichtig nimmt, ist unwiderruflich ausgelöscht. Ob sie jemand vermissen würde? Wahrscheinlich nicht. Vielleicht würde man ihr Verschwinden gar nicht bemerken. Aber in ihrem Alter war sie wenigstens vor Mädchenhändlern sicher, und über diesen Gedanken musste sie im Weitergehen unwillkürlich schmunzeln.
29, 31. Da vorne musste es sein. Sie sah auf die Uhr. Zehn Minuten vor drei. Sie zwang sich, langsamer zu gehen, um nicht zu früh zu kommen. Man würde sie sowieso noch etwas warten lassen. Mittlerweile kannte sie das Spiel.
Nummer 33 war etwas versetzt. Sie sah das Gebäude erst, als sie unmittelbar davor stand, und dann war sie so erstaunt, dass sie kaum wagte, weiterzugehen: Es war neu! Ein wunderschönes, neues Bürogebäude mit frisch geputzter Glasfassade und einem rotierenden Firmenlogo neben der Tür: BemoSan.
Sie dachte an Doktor Schrebers alte Kanzlei, in der sie 25 Jahre lang gearbeitete hatte. Jeden Winter die gleiche Erkältung, weil es durch die undichten Fenster zog und die Heizung nur mangelhaft funktionierte. Sie hatte das immer als ihr Schicksal akzeptiert. Die modernen Büros mit Computern, Klimaanlagen und Essensbons für die Kantine waren den wirtschaftlich Erfolgreichen vorbehalten. Sie musste sich mit dem abfinden, was sie kriegen konnte, und das war nun halt einmal die mickrige, kleine Rechtsanwaltskanzlei von Doktor Schreber, in der sie die Schriftstücke noch auf der Schreibmaschine tippen musste, weil die paar Scheidungsfälle und Verfahrenshilfen für einen Computer zu wenig abwarfen.
Von so einem Büro wie diesem hier hätte sie nicht einmal zu träumen gewagt! Aber vielleicht musste man sich nur trauen. Sie war immer den einfacheren Weg gegangen, den des geringsten Widerstandes. Solange ihre Eltern noch lebten, hatte das auch gut funktioniert. Sie war das einzige Kind gewesen, und ihr Vater hatte sie immer wieder finanziell unterstützt. Aber dann kam dieser schreckliche Unfall, und sie hatte plötzlich lernen müssen, was es heißt, auf eigenen Beinen zu stehen.
Wenn sie ehrlich war, dann hatte sie versagt, war den eigenen Ansprüchen an ihr Leben nie gerecht geworden. Und dass sie nach Doktor Schrebers Pensionierung jetzt auch noch arbeitslos war, gab ihr den Rest. Aber sah man ihr das an? Nein! Dieses Gefühl, vor sich selbst versagt zu haben, durfte sie sich von niemandem anmerken lassen! Und schon gar nicht jetzt, während sie sich vorstellen ging. Nur so hatte sie den Funken einer Chance auf einen neuen Job, durch Zuversicht. Ich will den Job, sagte sie sich innerlich vor, während sie die Tür öffnete. Immer wieder: Ich will den Job! Erst dann drückte sie den Liftknopf.
Die Firmenleitung war im dritten Stock, das hatte man ihr am Telefon gesagt. Sie sollte sich bei Direktor Switelski melden. Sie hatte sich den Namen schnell aufgeschrieben, und danach hatte sie ihn sich mehrmals wiederholt, um ihn nicht zu vergessen. Guten Tag, ich habe einen Termin mit Direktor Switelski. Oder sollte sie bei Direktor Switelski sagen? Nein, besser einfach nur: beim Herrn Direktor Switelski, das klang nicht so gespreizt. Hoffentlich musste sie nicht allzu viel schreiben, sie war noch immer nervös, und ihre Hände zitterten.
Endlich kam der Lift, und als sich die Tür hinter ihr schloss, glaubte sie, einen Schrei zu hören, wie von einem verängstigten Kind, aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein, weil die Aufzugstür in den Schienen quietschte.

Direktor Switelski war ein sympathischer Mann mit grauen Haaren und freundlichen Augen. Er hatte sie nicht warten lassen, obwohl sie fünf Minuten zu früh gekommen war, und als sie nervös wurde, weil ihr beruflicher Werdegang ausschließlich darin bestand, dass sie 25 Jahre lang in der Rechtsanwaltskanzlei Doktor Schreber gearbeitet hatte, nahm er ihr mit seinem gewinnenden Lächeln sofort die Befangenheit.
"Wir brauchen für diese Position jemanden, der loyal und zuverlässig ist", erklärte er ihr. "Sie werden sehen, Frau Helbig, die Arbeit selbst wird Ihnen nicht schwer fallen. Sie können doch mit einem Computer umgehen, oder?"
Mutig bejahte sie die Frage, obwohl ihr vom Computerkurs, den das Arbeitsamt bezahlt hatte, kaum etwas im Gedächtnis geblieben war. Aber schließlich hatte sie Zeugnisse, und notfalls würde sie ihr Konto überziehen und sich für zu Hause einen Computer anschaffen, um darauf zu üben.
"Sie sind sich hoffentlich im Klaren darüber, dass die Daten, mit denen Sie zu tun haben werden, durch und durch vertraulich sind."
"Ich habe auch in der Kanzlei immer wieder mit vertraulichen Informationen zu tun gehabt und diese stets mit äußerster Diskretion behandelt."
"Sie werden nämlich nicht hier heroben arbeiten, sondern unten im Labor, wo wir unsere Medikamente entwickeln und auch testen. Ich darf Ihnen versichern, dass diese Testreihen nicht nur für uns, sondern auch für die Konkurrenz einen bedeutenden Wert darstellen."
Der Direktor machte eine kurze Pause, und während er sie durchdringend ansah, hatte Erna Helbig für einen kurzen Moment ein schlechtes Gewissen, weil sie sich nicht genauer über die Firma informiert hatte.
BemoSan, BemoSan ... War da nicht vor kurzem etwas in der Zeitung gestanden? Sie hatte doch früher immer so ein gutes Gedächtnis gehabt! Leider war jetzt nicht die Zeit, darüber nachzudenken. Sie sagte schnell, dass sie alles versuchen würde, um den Ansprüchen des Unternehmens gerecht zu werden, aber es klang ihr nicht überzeugend, eher hölzern.
"Nun, was halten Sie davon, wenn wir einmal hinuntergehen, um Ihren zukünftigen Arbeitsplatz in Augenschein zu nehmen?", fragte Direktor Switelski und erhob sich. Er war nicht besonders groß, kaum größer als sie, aber seine Art, sich zu bewegen, deutete auf eine sportliche Lebensweise hin. Sie hatte nie verstanden, wie diese Leute es fertig brachten, neben ihrem Beruf auch noch die Zeit für Sport zu finden, und während sie mühsam versuchte, mit ihm Schritt zu halten, kam sie sich minderwertig vor - eine Ausgeschlossene, die nicht gut genug war, ihre Rolle in der Gesellschaft zu erfüllen.
Sie fuhren mit dem Lift zwei Stockwerke hinunter, und beim Aussteigen hörte sie wieder einen Schrei, diesmal deutlicher, und sie war sich sicher, dass er nicht von einem Kind, sondern von einem Tier stammte.
"Hier befinden sich unsere Labors", erklärte der Direktor. "Ich nenne es immer den Hochsicherheitstrakt, denn was sie jetzt sehen werden, versuchen wir nicht nur vor unserer Konkurrenz, sondern nach Möglichkeit auch vor der Öffentlichkeit geheim zu halten. Leider existiert in den Medien und in Teilen der Bevölkerung ein gewisses Unverständnis unserer Arbeit gegenüber, und dabei verlangt man von uns ständig bessere Medikamente, möglichst ohne Nebenwirkungen."
Ein hagerer Mann in weißem Kittel öffnete ihnen auf ihr Läuten die verschlossene Tür. Seine Haare waren militärisch kurz geschnitten. Er trug eine dünnrandige Brille. Switelski stellte ihn als Doktor Weihs vor, und zu dritt betraten sie einen großen Raum, der weniger einem pharmazeutischen Labor, als vielmehr einer Tierhandlung ähnelte. In mehreren Reihen standen Drahtkäfig an Drahtkäfig.
Während Erna Helbig an den ersten Käfig herantrat, wurde sie von den beiden Männern unauffällig beobachtet, so als versuchten sie, von der Seite ihre Reaktion abzuschätzen, aber Erna bemerkte davon nichts. Zu erstaunt war sie über das, was sie sah.
"Sind das Ratten?" fragte sie.
"Nein, Mäuse. Wohlgenährte Mäuse", antwortete Doktor Weihs. Seine Stimme klang unbeteiligt, fast ausdruckslos.
"Warum haben sie kein Fell?"
"Eine spezielle Züchtung. Wir testen an ihnen die Wirksamkeit verschiedener Hautpräparate. Wenn Sie genau hinsehen, können Sie erkennen, dass der Rücken der Tiere von einem schuppigen Belag überzogen ist."
Erna Helbig wusste, dass sie ihren Ekel unterdrücken musste, wenn sie sich eine Chance auf den Job bewahren wollte. Sie ging weiter zum nächsten Käfig, der etwas geräumiger war. Er enthielt Meerschweinchen, die gerade genüsslich einen Salatkopf zerlegten. Es war putzig anzusehen, wie die Tiere an den Blättern knabberten. Aber auch hier stimmte etwas nicht. Die Meerschweinchenkörper wirkten durch verschiedene Ausbuchtungen seltsam deformiert.
"Hier untersuchen wir die Auswirkungen von verschiedenen Nahrungsmittelergänzungen auf das Wachstum von Tumoren."
"Haben die Tiere Krebs?"
"Sie leiden alle an dem gleichen bösartigen Tumor, ja."
Erna Helbig konnte sich gut vorstellen, dass die Tiere nicht zufällig erkrankt waren. Sie taten ihr Leid. Es war abscheulich, diese unschuldigen Kreaturen leiden zu sehen, aber auf der anderen Seite empfand sie auch so etwas wie Faszination für das, was sie sah. Dieses Laboratorium war eine Ansammlung von Kuriositäten des Lebens, hier war das Leiden zusammengefasst, um es anderswo zu verringern und kranken Menschen dieses Schicksal zu ersparen. Erna Helbig sah durchaus den humanen Zweck, der diesem ganzen Unterfangen seine Berechtigung verlieh.
"Können Sie denn die Tiere auch wieder gesund machen?" fragte sie.
"Wie bitte?"
"Ich meine, Sie versuchen doch, Medikamente zu entwickeln, die diesen Tieren gegen ihre Krankheit helfen?"
"Ja, aber natürlich", schaltete sich jetzt Direktor Switelski ein. "Das ist gleichsam ein zusätzlicher Nutzen unserer Experimente, dass wir auch die Gesundheit der Versuchstiere wiederherstellen. Aber in erster Linie geht es uns um das Wohlbefinden der Menschen."
Erna Helbig nickte, und plötzlich empfand sie es als pietätlos, dass sie für einen kurzen Moment mehr an das Wohl der Tiere als an den Menschen gedacht hatte. Selbstverständlich ging es in erster Linie darum, menschliches Leid zu verringern.
"Wir können ja schwer Menschen für unsere Versuchsreihen heranziehen", sagte Direktor Switelski und nahm Erna an der Hand, um sie zum nächsten Käfig zu geleiten. Die Art und Weise, wie er ihr Handgelenk hielt, erinnerte sie dabei an einen Arzt, der versuchte, den Puls seines Patienten zu messen.
"Es macht ja wohl kaum einen Unterschied, wie das Medikament auf Menschen oder Tiere wirkt", sagte sie.
"Ja, das sollte man meinen, und für die meisten Präparate gilt das wohl auch, sonst würde man uns diese Versuchsreihen nicht gesetzlich vorschreiben, aber leider können wir anhand unserer Ergebnisse immer nur Vermutungen über die Wirkweise beim Menschen anstellen. Wussten Sie, dass Penicilin auf Meerscheinchen tödlich wirkt? Und eine Katze stirbt an Aspirin, aber das sind Ausnahmen. Im Normalfall haben Sie Recht: Es macht keinen Unterschied, ob wir das Präparat einem Menschen oder einem Tier verabreichen."
Es macht keinen Unterschied. Die Worte blieben ihr im Ohr hängen, und für einen kurzen Moment sah sie statt des Labors einen Saal mit Krankenbetten vor ihrem inneren Auge - Menschen mit Geschwüren und Ausschlägen, denen nach einem genau festgelegten Versuchsplan verschiedene Substanzen verabreicht wurden.
"Diese Tiere hier sind übrigens völlig gesund", sagte Doktor Weihs und deutete auf einen Käfig, in dem kleine Äffchen spielten. "Sie wurden nur gegen Hepatitis geimpft, um das Serum auf allergische Reaktionen zu testen."
Daneben stand ein dicht bepflanztes Aquarium, in dem sich Schnecken und kleine Krebse tummelten. Erna betrachtete es fasziniert.
"Das ist ein weiteres Projekt, auf das wir sehr stolz sind. Ein Teil der Inhaltsstoffe, die wir Menschen mit Medikamenten einnehmen, wird wieder ausgeschieden. Hier testen wir, wie schnell diese Substanzen abgebaut werden und welchen Einfluss sie in der Zwischenzeit auf die Wasserfauna ausüben."
Der Blick in das Aquarium hatte sie einigermaßen beruhigt. Mittlerweile hatten sie fast das Ende ihres Rundgangs erreicht. Nur zwei Käfige lagen jetzt noch vor ihnen. Ob es noch eine Steigerung gab? Sie hoffte nicht. Allzu viel würde sie jetzt nicht mehr ertragen können.
"Und das ist unser Prachtstück", sagte Direktor Switelski, als sie sich dem nächsten Käfig näherten. "Das ist das Tier, mit dem wir am meisten anfangen können, weil es dem Menschen am nächsten steht. Die Experimente, die wir mit ihm durchführen können, sind am aussagekräftigsten."
Erna Helbig überkam eine dumpfe Übelkeit, als sie in den Käfig blickte, und sie war froh, dass sie zu Mittag vor Nervosität kaum etwas gegessen hatte. Festgebunden saß ein Schimpanse auf einem Metallstuhl und beobachtete jede ihrer Bewegungen mit seinen wachsamen Augen. Für einen Moment erinnerte sie sein Gesichtsausdruck an einen leidenden Menschen, aber sofort verwarf sie den Gedanken wieder. Nein, mit einem Menschen würde man so etwas nie machen! Der Schimpanse hing an verschiedenen Schläuchen, wurde über eine Infusionsflasche künstlich ernährt, und ein Katheter sorgte dafür, dass er auch für die Ausscheidung an den Stuhl geschnallt bleiben konnte. Aber was hing da an seinem Kopf? Es schien, als führte einer dieser Schläuche direkt in seinen Schädel.
"1900 Dollar hat uns dieser Schimpanse gekostet", sagte Direktor Switelski hinter ihr gerade stolz, "aber er war unbedingt notwendig, um ein äußerst wirksames Schmerzmittel zu testen. Es ist ein völlig neuartiges Verfahren: Wir injizieren die Substanz direkt ins Schmerzzentrum des Gehirns. Dadurch können wir viel geringer dosieren und ein Maximum an Wirkung mit einem Minimum an Einsatz erzielen."
Als sie so Auge in Auge mit der gequälten Kreatur vor dem Gehege stand, wollte sie zuerst nur noch weglaufen, einfach weglaufen. Aber dann hörte sie wieder ihre innere Stimme: Ich will den Job, ich will den Job! Sie musste nur durchhalten. Wenn Sie jetzt nicht schwach wurde, konnte sie es schaffen. Wer sonst würde diesen Job annehmen, wenn nicht sie. Das war ihre Chance. Sie musste sich jetzt zusammennehmen, ruhig bleiben, am besten etwas sagen.
"Hat er keine Schmerzen?" fragte sie und wunderte sich dabei über den normalen Klang ihrer Stimme.
"Nun, sagen kann er es uns zwar nicht, aber wir nehmen es doch an. Schließlich bekommt er das modernste Schmerzmittel, das es im Moment auf dem Markt gibt."
Irgend etwas sagte ihr, dass sie es geschafft hatte. Jetzt brauchte sie nur noch mit dem Direktor zurück ins Büro gehen, dann war diese monatelange Zeit der Demütigung vorbei. Sie würde wieder arbeiten, sie würde wieder jeden Morgen erhabenen Hauptes die Wohnung verlassen, um sich an ihren Arbeitsplatz zu begeben. Ihren Arbeitsplatz!
Und als Direktor Switelski sie erneut am Handgelenk nahm, um sie hinauszuführen, und gerade, als sie wieder das Gefühl hatte, er wäre ein Arzt und würde ihren Puls messen, fiel ihr Blick auf den letzten Käfig. Noch einer! Und er war genauso eingerichtet wie der letzte! In der Mitte stand der gleiche Folterstuhl mit den gleichen verschließbaren Manschetten und den Haltegurten. Sie schwankte. Aber dann durchzuckte es sie. Gott sei Dank! Er war leer. Sie riss sich noch einmal zusammen. Sie würde es schaffen! Noch zwei, drei feste Schritte und sie hatte die Aufnahmeprüfung bestanden, das wusste sie jetzt. Es war nichts als ein Test gewesen, und sie hatte ihn bestanden, sie hatte die nötige Nervenstärke bewiesen.
"Ich nehme an, Sie haben Ihre Einstellung nicht geändert?" fragte der Direktor, als sie in sein Büro zurückkehrten.
"Ich glaube, dass ich der Aufgabe gewachsen bin", antwortete sie, und ein neues, unerwartetes Selbstbewusstsein durchflutete sie.
"Gut. Dann lassen Sie uns über die Formalitäten sprechen. Ich nehme an, Sie haben gewisse Vorstellungen über die Höhe Ihres zukünftigen Gehaltes, wir haben das auch. Wären 2000 Euro netto und freier Mittagstisch für Sie akzeptabel?"
Diesmal konnte Erna Helbig nur nicken. Nie im Leben hätte sie damit gerechnet, dass sie einmal so viel Geld verdienen würde.
"Und dann wäre da noch eine Sache: Sie können sich sicherlich vorstellen, dass bei unserer Arbeit zuweilen Aufgaben anfallen, die sofort erledigt werden müssen, also wird es manchmal notwendig sein, dass Sie abends länger bleiben, und wir setzen dabei eine gewisse Zuverlässigkeit voraus."
"Daran bin ich von meiner früheren Tätigkeit her gewöhnt."
"Das kann ich mir durchaus vorstellen, und ich habe natürlich auch in ihrem Lebenslauf gelesen, dass Sie ledig und kinderlos sind. Aber es gibt dann doch immer wieder gewisse familiäre Verpflichtungen: eine kranke Mutter, die zu pflegen ist ..."
"Meine Eltern sind vor elf Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen."
"Oh, das tut mir Leid", sagte er, aber sie konnte genau merken, dass er es nicht besonders ehrlich meinte. Warum sollte er auch? Für ihn war es bequemer, wenn sie keine lästigen Angehörigen hatte und jederzeit verfügbar war, und für 2000 Euro im Monat brauchte sie sein Mitgefühl auch nicht.
"Wann können Sie anfangen?"
"Morgen."
"Gut. Dann erwarte ich Sie morgen früh um neun Uhr."
"Heißt das, ich habe den Job?" fragte sie, während sie ihm zum Abschied die Hand schüttelte.
"Ja. Von allen Bewerberinnen sind Sie die geeignetste!"
Als sie das Büro verließ, hätte sie am liebsten getanzt. Sie hatte den Job! Nie wieder würde sie Medikamente nehmen müssen, um ihre Antriebslosigkeit zu bekämpfen. Und mit 2000 Euro im Monat konnte sie sich auch weiterhin die große Wohnung leisten. Die Zeit der Entbehrungen war vorbei! Von nun an ging es wieder aufwärts.
Dem sportlichen, grauhaarigen Mann, den sie in seinem Büro zurückließ, war diese Fröhlichkeit natürlich nicht entgangen. Er schmunzelte. Dann drückte er einen Knopf auf seinem Schreibtisch. Fünf Minuten später erschien der hagere Doktor Weihs in seinem weißen Kittel.
"Und?," fragte er. "Nehmen wir sie?"
"Ja! Gleich morgen schicke ich sie zu dir hinunter, und dann hängst du sie an die Schläuche."

 

 

 
Copyright © Richard Rode, 2006