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[An die Eltern] E Nr. 20
Liebste Eltern, ich werde vorläufig nichts loben, mit dem Loben komme
ich niemals sehr weit, ich werde mich also nur an Tatsachen halten undzwar
an die nicht lobenswerten. Gewicht etwa 50 kg. Temperatur wird hinuntergehn,
denn ich muß dreimal täglich Pyramidon nehmen, Husten wird sich
bessern, denn ich bekomme ein Mittel dagegen, der Hals wurde untersucht,
das scheint nicht schlimm zu sein, genaues weiß ich allerdings darüber
noch nichts, übrigens auch ein Mittel dagegen. Um doch mit
etwas Lob zu schließen, das Zimmer ist gut, die Gegend prachtvoll.
Und nun wollen wir weiter sehn.
Herzlichste Grüße
Euer F
Wenn jemand von uns mit Dora sprechen sollte: sie soll
mir ihre Wiener Adresse schreiben und nicht früher nach Pernitz
fahren (unendliche Reise) ehe ich ihr darüber nach geschrieben haben
[sic]. Spricht niemand mit Dora, ist es kein Unglück, nur übergroße
Vorsicht meinerseits.
Postkarte, 14 x 9 cm, beide Seiten . mit Tinte beschrieben, einschließlich
der Adresse: Hermann Kafka, Prag, Altstädter Ring 6, III Stock.
Über der Adresse der Zusatz Pernitz, Wiener Wald, offensichtlich
von der Hand der Mutter. Frankierung: 900 österreichische Kronen.
Undatiert; Zuordnung nach dem Poststempel, 7.IV.24, bestimmt. Ins Sanatorium
Wienerwald war Kafka am 5. April 1924 gefahren (vgl. auch Nr. 19, Anm.6).
1] mit etwas Lob zu schließen: Später,
am 20. April 1924, charakterisiert Kafka in einem Brief an Brod das Sanatorium
mit den Worten: ". . . von dem bösen bedrückenden Sanatorium
im Wiener Wald." (BRK II, 454)
2] Und nun wollen wir weiter sehn: Kafka ist stets
bemüht, seinen Eltern die Dinge im günstigsten Licht darzustellen.
Eine Mitteilung annähernd gleichen Inhalts, nur detaillierter und
zugleich skeptischer, richtet Kafka am selben Tag an Robert Klopstock:
"Lieber Robert, nur das Medizinische, alles andere ist zu umständlich,
dieses aber - sein einziger Vorteil - erfreulich einfach. Gegen Fieber
dreimal täglich flüssiges Pyramidon - gegen Husten Demopon (hilft
leider nicht) - und Anästesiebonbons: Zu Demopon auch Atropin, wenn
ich nicht irre. Hauptsache ist wohl der Kehlkopf. In Worten erfährt
man freilich nichts Bestimmtes, da bei Besprechung der Kehlkopftuberkulose
jeder in eine schüchterne ausweichende starräugige Redeweise
verfällt. Aber "Schwellung hinten", "Infiltration" "nicht bösartig"
aber "Bestimmtes kann man noch nicht sagen", das in Verbindung mit sehr
bösartigen Schmerzen genügt wohl. Sonst: gutes Zimmer, schönes
Land, von Protektion habe ich nichts bemerkt. Pneumothorax zu erwähnen
hatte ich keine Gelegenheit, bei dem schlechten Gesamtzustand (49 kg in
Winterkleidern) kommt er ja auch nicht in Betracht. - Mit dem übrigen
Haus komme ich gar nicht in Verkehr, liege im Bett, kann ja auch nur flüstern
(wie schnell das ging, etwa am dritten Tag in Prag begann es andeutungsweise
zum erstenmal), es scheint ein großes Schwatznest zu sein von Balkon
zu Balkon, vorläufig stört es mich nicht." (Br, 479-480)
3] Dora: Nach der Übersiedlung Kafkas ins Sanatorium
Wienerwald nahm Dora Diamant für kurze Zeit Wohnung in Wien; sie besuchte
Kafka im Sanatorium erst später (vgl. Nr. 21).
4] Pernitz: Kleinstadt, etwa 40 km südwestlich
von Wien; in der Nähe -das Dorf Ortmann, wo sich das Sanatorium Wienerwald
befand.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at