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An Milena Jesenská
Ich bin nicht unaufrichtig Milena (allerdings habe ich den Eindruck, dass
meine Schrift früher offener und klarer war, ist es so?) ich bin so
aufrichtig, als es die Gefängnisordnung" erlaubt und das ist
sehr viel, auch wird die "Gefängnisordnung" immer freier.
Aber "damit" kann ich nicht kommen, "damit" zu
kommen ist unmöglich. Ich habe eine Eigentümlichkeit, die mich
von allen mir Bekannten nicht wesentlich, aber graduell sehr stark unterscheidet.
Wir kennen doch beide ausgiebig charakteristische Exemplare von Westjuden,
ich bin, soviel ich weiß, der westjüdischeste von ihnen, das
bedeutet, übertrieben ausgedrückt, dass mir keine ruhige
Sekunde geschenkt ist, nichts ist mir geschenkt, alles muß erworben
werden, nicht nur die Gegenwart und Zukunft, auch noch die Vergangenheit,
etwas das doch jeder Mensch vielleicht mitbekommen hat, auch das muß
erworben werden, das ist vielleicht die schwerste Arbeit, dreht sich die
Erde nach rechts - ich weiß nicht, ob sie das tut müßte
ich mich nach links drehn, um die Vergangenheit nachzuholen. Nun habe ich
aber zu allen diesen Verpflichtungen nicht die geringste Kraft, ich kann
nicht die Welt auf meinen Schultern tragen, ich ertrage dort kaum meinen
Winterrock. Diese Kraftlosigkeit ist übrigens nicht etwas unbedingt
zu beklagendes; welche Kräfte würden für diese Aufgaben
hinreichen! Jeder Versuch hier mit eigenen Kräften durchkommen zu
wollen, ist Irrsinn und wird mit Irrsinn gelohnt. Darum ist es unmöglich
"damit zu kommen" wie Du schreibst. Ich kann aus Eigenem nicht
den Weg gehn, den ich gehen will, ja ich kann ihn nicht einmal gehn wollen,
ich kann nur still sein, ich kann nichts anderes wollen, ich will auch
nichts anderes.
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Es ist etwa so, wie wenn jemand vor jedem einzelnen Spaziergang nicht nur
sich waschen, kämmen u.s.w. müßte - schon das ist ja mühselig
genug - sondern auch noch, da ihm vor jedem Spaziergang alles Notwendige
immer wieder fehlt, auch noch das Kleid nähn, die Stiefel zusammenschustern,
den Hut fabricieren, den Stock zurechtschneiden u.s.w. Natürlich kann
er das alles nicht gut machen, es hält vielleicht paar Gassen lang,
aber auf dem Graben z. B. fällt plötzlich alles
auseinander und er steht nackt da mit Fetzen und Bruchstücken. Diese
Qual nun, auf den Altstädter Ring zurückzulaufen! Und am Ende
stößt er noch in der Eisengasse auf einen Volkshaufen,
welcher auf Juden Jagd macht.
Mißversteh mich nicht Milena, ich sage nicht dass dieser Mann
verloren ist, ganz und gar nicht, aber er ist verloren wenn er auf den
Graben geht, er schändet dort sich und die Welt.
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Deinen letzten Brief bekam ich Montag und habe Dir auch gleich Montag geschrieben.
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Dein Mann soll hier gesagt haben, dass er nach Paris übersiedeln
will. Handelt es sich um etwas Neues innerhalb des alten Plans?
1] auf dem Graben: Der Graben / Na Příkopá,
die Prager Haupt- und Geschäftsstraße zwischen Pulverturm und
Wenzelsplatz. Hier befanden sich mehrere, damals viel von Deutschen besuchte
Restaurants und Kaffeehäuser, darunter das "Continental".
2] Eisengasse: [Železná ul.] Verbindungsstraße
vom Altstädter Ring - über die Bergmannsgasse/Havířká
ul. - zum Graben/Na Příkope. In dieser Straße hatten
sich während der Ausschreitungen Übergriffe ereignet, so dass
sie am 17. November vorübergehend von der Polizei gesperrt worden
war. Vgl. 1. Brief vom [Mitte November 1920], Anm. 1.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at