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An Milena Jesenská
Heute kamen zwei Briefe. Natürlich hast Du recht Milena, ich wage
ja vor Scham über meine Briefe Deine Antworten kaum zu öffnen.
Nun sind aber meine Briefe wahr oder wenigstens auf dem Weg zur Wahrheit,
was täte ich erst vor Deinen .Antworten wenn meine Briefe erlogen
wären. Leichte Antwort: ich würde verrückt werden. Dieses
Wahneden ist also kein sehr großes Verdienst, es ist ja auch so wenig,
ich suche nur immerfort etwas Nicht-Mitteilbares mitzuteilen, etwas Unerklärbares
zu erklären, von etwas zu erzählen, was ich in den Knochen habe
und was nur in diesen Knochen erlebt werden kann. Es ist ja vielleicht
im Grunde nichts anderes als jene Angst von der schon so oft die Rede war,
aber Angst ausgedehnt auf alles, Angst vor dem Größten wie Kleinsten,
Angst, krampfhafte Angst vor dem Aussprechen eines Wortes. Allerdings ist
diese Angst vielleicht nicht nur Angst, sondern auch Sehnsucht nach etwas
was mehr ist als alles Angsterregende.
"O mne rozbil" ["An mir zerschlagen"] das ist etwas
ganz und gar Unsinniges. Nur ich habe die Schuld, sie besteht in zu wenig
Wahrheit auf meiner Seite, immer noch viel zu wenig Wahrheit, immer noch
allermeistens Lüge, Lüge aus Angst vor mir und aus Menschenangst.
Dieser Krug war schon zerbrochen lange noch ehe er zum Brunnen ging. Und
nun halte ich den Mund, um nur ein wenig bei der Wahrheit zu bleiben. Lüge
ist entsetzlich, ärgere geistige Qualen gibt es nicht. Darum bitte
ich Dich: laß mich still sein, in Briefen jetzt, in Worten in Wien.
O mne rozbil schreibst Du, aber ich sehe nur, dass Du Dich quälst,
Ruhe nur auf den Gassen findest wie Du schreibst, ich aber hier im warmen
Zimmer in Schlafrock und Pantoffeln sitze, so ruhig, als es meine "Uhrfeder"
nur überhaupt zuläßt (denn "die Zeit anzeigen" muß
ich allerdings).
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Wann ich fahre, kann ich erst sagen wenn die Aufenthaltsbewilligung kommt.
Für einen mehr als dreitägigen Aufenthalt ist eine besondere
Bewilligung der Landesregierung jetzt nötig. Ich habe vor einer Woche
darum angesucht.
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Warum brauchst Du die Zeitschriften nicht mehr? Die Hefte habe ich geschickt,
auch ein Bändchen von Čapek. [. . .] [ca.
15 Wörter unleserlich gemacht]
Woher kennst Du das Mädchen? Ich kenne die Krankheit von zwei Verwandten
her, bei beiden aber hat sie sich beruhigt, ohne aufzuhören allerdings.
Freilich, wenn das Mädchen in Not ist, ist es viel schlimmer. (In
Grimmenstein ist eine Abteilung nur für solche Krankheiten.)
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O mne rozbil ich denke wieder daran, es ist genau so unrichtig wie etwa
das Ausdenken der gegenteiligen Möglichkeit.
Das ist weder mein Mangel, noch Mangel der Menschen. Ich gehöre eben
in die stillste Stille, so ist es für mich richtig.
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Die Geschichte habe ich für Dich ausgeschnitten. Levine
wurde in München erschossen, nicht?
1] Čapek: Der tschechische Erzähler Karel
Čapek (1890-1938).
2] Levine: Eugen Levine (1883-1919), seit März
1919 Herausgeber der "Münchener Roten Fahne"; an der Münchener
Räterepublik führend beteiligt, wurde Anfang 1919 zum Tode verurteilt
und am 5. Juni erschossen.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at