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An Milena Jesenská

[Meran, 1. Juni 1920]
Dienstag
 

Ich rechne: Samstag geschrieben, trotz des Sonntags schon Dienstag mittag angekommen, Dienstag dem Mädchen aus der Hand gerissen, eine so schöne Postverbindung und Montag soll ich fortfahren, sie aufgeben.

Sie sind so gut sich zu sorgen, Sie entbehren Briefe, ja vorige Woche habe ich paar Tage nicht geschrieben aber seit Samstag jeden Tag, so dass Sie inzwischen 3 Briefe bekommen, denen gegenüber Sie die brieflose Zeit loben werden. Sie werden erkennen, dass durchaus alle Ihre Befürchtungen berechtigt sind, also dass ich Ihnen sehr böse bin im allgemeinen und dass im besondern in Ihren Briefen mir vieles gar nicht gefallen hat, dass mich die Feuilletons geärgert haben u. s. w. Nein Milena vor alledem müssen Sie nicht Angst haben, aber vor dem Gegenteil zittern Sie!

Es ist so schön dass ich Ihren Brief bekommen habe, Ihnen mit dem schlaflosen Gehirn antworten muß. Ich weiß nichts zu schreiben, ich gehe nur hier zwischen den Zeilen herum, unter dem Licht Ihrer Augen, im Atem Ihres Mundes wie in einem schönen glücklichen Tag, der schön und glücklich bleibt, auch wenn der Kopf krank ist, müde und man Montag wegfährt über München.

Ihr F                   


Sie sind meinetwegen nachhause gelaufen, ohne Atem? Ja sind Sie denn nicht krank und habe ich keine Sorge mehr um Sie? Es ist wirklich so, ich habe gar keine Sorge mehr, - nein, ich übertreibe jetzt wie damals, aber es ist eine Sorge so, wie wenn ich Sie hier hätte unter meiner Aufsicht, mit der Milch die ich trinke gleichzeitig Sie fütterte, mit der Luft, die ich atme, die mir aus dem Garten herschlägt gleichzeitig Sie kräftigte, nein, das wäre sehr wenig, Sie viel mehr kräftige als mich.

Wahrscheinlich werde ich aus verschiedenen Gründen Montag noch nicht fahren, sondern erst ein wenig später. Dann fahre ich aber direkt nach Prag, es gibt neuestens einen direkten Schnellzug Bozen-München-Prag. Falls Sie mir noch paar Zeilen schreiben wollten, könnten Sie es tun; sollten sie mich nicht erreichen, werden sie mir nach Prag nachgeschickt.

Bleiben Sie mir gut!

F.                    


Man ist doch ein Ausbund von Dummheit. Ich lese ein Buch über Tibet; bei der Beschreibung einer Niederlassung an der tibetanischen Grenze im Gebirge, wird mir plötzlich schwer ums Herz, so trostlos verlassen scheint dort das Dorf, so weit von Wien. Wobei ich dumm die Vorstellung nenne, dass Tibet weit von Wien ist. Wäre es denn weit?

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at