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An Milena Jesenská

[Meran, 2. Juni 1920]
Mittwoch
 

Die zwei Briefe kamen gemeinsam, mittag; sie sind nicht zum lesen da, sondern um ausgebreitet zu werden, das Gesicht in sie zu legen und den Verstand zu verlieren. Aber nun zeigt es sich, dass es gut ist, wenn man ihn schon fast verloren hat, denn den Rest hält man dann noch möglichst lange zusammen. Und darum sagen meine 38 jüdischen angesichts Ihrer 24 christlichen Jahre:

Wie wäre das? Und wo sind die Weltgesetze und die ganze Polizei des Himmels? Du bist 38 Jahre alt und so müde wie man wahrscheinlich durch Alter überhaupt nicht werden kann. Oder richtiger: Du bist gar nicht müde, sondern unruhig, sondern fürchtest Dich nur einen Schritt zu tun auf dieser von Fuß-Fallen strotzenden Erde, hast deshalb eigentlich immer gleichzeitig beide Füße in der Luft, bist nicht müde, sondern fürchtest Dich nur vor der ungeheueren Müdigkeit, die dieser ungeheueren Unruhe folgen wird und (Du bist doch Jude und weißt was Angst ist) die sich etwa als blödsinniges Hinstieren denken läßt, besten Falls, im Irrenhausgarten hinter dem Karlsplatz.

Gut, das wäre also Deine Lage. Einige Gefechte hast Du mitgefochten, Freund und Feind dabei unglücklich gemacht (und hattest doch sogar nur Freunde, gute, liebe Menschen, keinen Feind), bist schon dabei ein Invalide geworden, einer von denen, die zu zittern anfangen, wenn sie eine Kinderpistole sehn und nun, nun plötzlich ist es Dir so als seiest Du einberufen zu dem großen welterlösenden Kampf. Das wäre doch sehr sonderbar nicht?

Denke auch daran, dass vielleicht die beste Zeit Deines Lebens, von der Du eigentlich noch zu niemandem richtig gesprochen hast, vor etwa 2 Jahren jene 8 Monate auf einem Dorf gewesen sind, wo Du mit allem abgeschlossen zu haben glaubtest, Dich nur auf das Zweifellose in Dir beschränktest, frei warst, ohne Briefe, ohne die 5 jährige Postverbindung mit Berlin, im Schutz Deiner Krankheit und dabei gar nicht viel an Dir verändern sondern nur die alten engen Umrisse Deines Wesens fester nachziehn mußtest (im Gesicht unter den grauen Haaren hast Du Dich ja kaum verändert seit Deinem 6ten Jahr).

dass das nicht das Ende war, hast Du leider in den letzten 1½ Jahren erfahren, tiefer konntest Du in dieser Richtung kaum fallen (ich nehme den letzten Herbst aus, wo ich anständig um die Ehe kämpfte), tiefer einen andern Menschen, ein gutes liebes sich in Selbstlosigkeit auslöschendes Mädchen nicht mit Dir hinunterziehn, tiefer nicht, in jeder Hinsicht ausweglos, auch nach der Tiefe hin.

Gut und nun ruft Dich Milena mit einer Stimme, die Dir in gleicher Stärke eindringt in Verstand und Herz. Natürlich, Milena kennt Dich nicht, ein paar Geschichten und Briefe haben sie verblendet; sie ist wie das Meer, stark wie das Meer mit seinen Wassermassen und doch im Mißverständnis mit aller seiner Kraft hinstürzend, wenn der tote und vor allem ferne Mond es will. Sie kennt Dich nicht und es ist vielleicht eine Ahnung der Wahrheit, wenn sie will dass Du kommst. Daß Deine wirkliche Anwesenheit sie nicht mehr verblenden wird, dessen kannst Du ja sicher sein. Willst Du, zarte Seele am Ende deshalb nicht kommen, weil Du gerade das fürchtest?

Aber zugegeben: Du hast 100 andere innere Gründe nicht zu kommen (Du hast sie wirklich) und außerdem noch einen äußern, dass Du nämlich nicht imstande sein wirst mit Milenas Mann zu sprechen oder ihn nur zu sehn und dass Du ebensowenig imstande sein wirst mit Milena zu sprechen oder sie zu sehn, wenn ihr Mann nicht dabei ist - das alles zugegeben, so stehn dem doch zwei Überlegungen entgegen:

Erstens wird Milena wenn Du sagst dass Du kommst vielleicht gar nicht mehr wollen dass Du kommst, nicht etwa aus Wankelmütigkeit, sondern aus natürlicher Müdigkeit, sie wird Dich gerne und erleichtert reisen lassen, wie Du willst.

Zweitens aber fahre wirklich nach Wien! Milena denkt nur an das Sich-öffnen der Tür. Die wird sich allerdings öffnen aber dann? Dann wird dort ein langer magerer Mensch stehn, freundlich lächeln (das wird er immerfort tun, er hat das von einer alten Tante, die auch immerfort gelächelt hat, beide aber machen es nicht aus Absicht, nur aus Verlegenheit) und wird sich dann setzen, wohin man zeigen wird. Damit wird eigentlich die Feierlichkeit zuende sein, denn reden wird er kaum, dazu fehlt es ihm an Lebenskraft (mein neuer Tischgenosse hier sagte gestern mit Bezug auf die vegetarische Kost des stummen Mannes: "ich glaube: für geistige Arbeit ist Fleischkost unbedingt erforderlich"), er wird nicht einmal glücklich sein, auch dazu fehlt es ihm an Lebenskraft.

Nun sehen Sie Milena, ich spreche offen. Sie sind aber klug, Sie merken die ganze Zeit über, dass ich zwar die Wahrheit (die volle, unbedingte und haargenaue) spreche, aber zu offen. Ich hätte ja ohne diese Ankündigung kommen und Sie kurzer Hand entzaubern können. Daß ich es nicht getan habe, ist aber nur ein Beweis mehr für meine Wahrheit, meine Schwäche.

Ich bleibe noch 14 Tage, hauptsächlich deshalb, weil ich mich schäme und fürchte mit diesem Kurerfolg zurückzukommen. Zuhause und was besonders ärgerlich ist, in meiner Anstalt erwartet man von dieser Urlaubsreise etwas wie annähernde Gesundung. Quälend diese Anfragen: wie viel hast Du schon wieder zugenommen? Und man nimmt ab. Spare nicht! (Gegen meinen Geiz gerichtet) Und ich zahle die Pension, kann aber nicht essen. Und dergleichen Späße.

Noch so vieles zu sagen, aber der Brief gienge nicht ab. Ja, das wollte ich noch sagen: wenn Sie gegen Ende der 14 Tage noch so fest wie Freitag es wollen, dass ich komme, dann komme ich

Ihr F.                    




1] jene 8 Monate auf einem Dorf: Kafka bezieht sich hier auf den Aufenthalt bei seiner Schwester Ottla in Zürau von Mitte September 1917 bis Ende April 1918. Nach dem Ausbruch der Lungentuberkulose war er in das etwa 70 km von Prag gelegene Dorf in Nordwestböhmen gefahren, um dort Besserung seines Gesundheitszustandes zu finden.


2] ein . . . sich in Selbstlosigkeit auslöschendes Mädchen: Julie Wohryzek. Vgl. Brief vom [31. Mai 1920], Anm. 3.


3] Anstalt: Die halbstaatliche Behörde "Arbeiter-UnfallVersicherungs-Anstalt", Prag, Pořič 7, bei der Kafka seit 1908 angestellt war.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at