Voriger Eintrag | Jahresübersicht | Indexseite | Nächster Eintrag |
An Milena Jesenská
Die zwei Briefe kamen gemeinsam, mittag; sie sind nicht zum lesen da, sondern
um ausgebreitet zu werden, das Gesicht in sie zu legen und den Verstand
zu verlieren. Aber nun zeigt es sich, dass es gut ist, wenn man ihn
schon fast verloren hat, denn den Rest hält man dann noch möglichst
lange zusammen. Und darum sagen meine 38 jüdischen angesichts Ihrer
24 christlichen Jahre:
Wie wäre das? Und wo sind die Weltgesetze und die ganze Polizei des
Himmels? Du bist 38 Jahre alt und so müde wie man wahrscheinlich durch
Alter überhaupt nicht werden kann. Oder richtiger: Du bist gar nicht
müde, sondern unruhig, sondern fürchtest Dich nur einen Schritt
zu tun auf dieser von Fuß-Fallen strotzenden Erde, hast deshalb eigentlich
immer gleichzeitig beide Füße in der Luft, bist nicht müde,
sondern fürchtest Dich nur vor der ungeheueren Müdigkeit, die
dieser ungeheueren Unruhe folgen wird und (Du bist doch Jude und weißt
was Angst ist) die sich etwa als blödsinniges Hinstieren denken läßt,
besten Falls, im Irrenhausgarten hinter dem Karlsplatz.
Gut, das wäre also Deine Lage. Einige Gefechte hast Du mitgefochten,
Freund und Feind dabei unglücklich gemacht (und hattest doch sogar
nur Freunde, gute, liebe Menschen, keinen Feind), bist schon dabei ein
Invalide geworden, einer von denen, die zu zittern anfangen, wenn sie eine
Kinderpistole sehn und nun, nun plötzlich ist es Dir so als seiest
Du einberufen zu dem großen welterlösenden Kampf. Das wäre
doch sehr sonderbar nicht?
Denke auch daran, dass vielleicht die beste Zeit Deines Lebens, von
der Du eigentlich noch zu niemandem richtig gesprochen hast, vor etwa 2
Jahren jene 8 Monate auf einem Dorf gewesen sind, wo Du
mit allem abgeschlossen zu haben glaubtest, Dich nur auf das Zweifellose
in Dir beschränktest, frei warst, ohne Briefe, ohne die 5 jährige
Postverbindung mit Berlin, im Schutz Deiner Krankheit und dabei gar nicht
viel an Dir verändern sondern nur die alten engen Umrisse Deines Wesens
fester nachziehn mußtest (im Gesicht unter den grauen Haaren hast
Du Dich ja kaum verändert seit Deinem 6ten Jahr).
dass das nicht das Ende war, hast Du leider in den letzten 1½
Jahren erfahren, tiefer konntest Du in dieser Richtung kaum fallen (ich
nehme den letzten Herbst aus, wo ich anständig um die Ehe kämpfte),
tiefer einen andern Menschen, ein gutes liebes sich in Selbstlosigkeit
auslöschendes Mädchen nicht mit Dir hinunterziehn, tiefer
nicht, in jeder Hinsicht ausweglos, auch nach der Tiefe hin.
Gut und nun ruft Dich Milena mit einer Stimme, die Dir in gleicher Stärke
eindringt in Verstand und Herz. Natürlich, Milena kennt Dich nicht,
ein paar Geschichten und Briefe haben sie verblendet; sie ist wie das Meer,
stark wie das Meer mit seinen Wassermassen und doch im Mißverständnis
mit aller seiner Kraft hinstürzend, wenn der tote und vor allem ferne
Mond es will. Sie kennt Dich nicht und es ist vielleicht eine Ahnung der
Wahrheit, wenn sie will dass Du kommst. Daß Deine wirkliche
Anwesenheit sie nicht mehr verblenden wird, dessen kannst Du ja sicher
sein. Willst Du, zarte Seele am Ende deshalb nicht kommen, weil Du gerade
das fürchtest?
Aber zugegeben: Du hast 100 andere innere Gründe nicht zu kommen (Du
hast sie wirklich) und außerdem noch einen äußern, dass
Du nämlich nicht imstande sein wirst mit Milenas Mann zu sprechen
oder ihn nur zu sehn und dass Du ebensowenig imstande sein wirst mit
Milena zu sprechen oder sie zu sehn, wenn ihr Mann nicht dabei ist - das
alles zugegeben, so stehn dem doch zwei Überlegungen entgegen:
Erstens wird Milena wenn Du sagst dass Du kommst vielleicht gar nicht
mehr wollen dass Du kommst, nicht etwa aus Wankelmütigkeit, sondern
aus natürlicher Müdigkeit, sie wird Dich gerne und erleichtert
reisen lassen, wie Du willst.
Zweitens aber fahre wirklich nach Wien! Milena denkt nur an das Sich-öffnen
der Tür. Die wird sich allerdings öffnen aber dann? Dann wird
dort ein langer magerer Mensch stehn, freundlich lächeln (das wird
er immerfort tun, er hat das von einer alten Tante, die auch immerfort
gelächelt hat, beide aber machen es nicht aus Absicht, nur aus Verlegenheit)
und wird sich dann setzen, wohin man zeigen wird. Damit wird eigentlich
die Feierlichkeit zuende sein, denn reden wird er kaum, dazu fehlt es ihm
an Lebenskraft (mein neuer Tischgenosse hier sagte gestern mit Bezug auf
die vegetarische Kost des stummen Mannes: "ich glaube: für geistige
Arbeit ist Fleischkost unbedingt erforderlich"), er wird nicht einmal
glücklich sein, auch dazu fehlt es ihm an Lebenskraft.
Nun sehen Sie Milena, ich spreche offen. Sie sind aber klug, Sie merken
die ganze Zeit über, dass ich zwar die Wahrheit (die volle, unbedingte
und haargenaue) spreche, aber zu offen. Ich hätte ja ohne diese Ankündigung
kommen und Sie kurzer Hand entzaubern können. Daß ich es nicht
getan habe, ist aber nur ein Beweis mehr für meine Wahrheit, meine
Schwäche.
Ich bleibe noch 14 Tage, hauptsächlich deshalb, weil ich mich schäme
und fürchte mit diesem Kurerfolg zurückzukommen. Zuhause und
was besonders ärgerlich ist, in meiner Anstalt erwartet
man von dieser Urlaubsreise etwas wie annähernde Gesundung. Quälend
diese Anfragen: wie viel hast Du schon wieder zugenommen? Und man nimmt
ab. Spare nicht! (Gegen meinen Geiz gerichtet) Und ich zahle die Pension,
kann aber nicht essen. Und dergleichen Späße.
Noch so vieles zu sagen, aber der Brief gienge nicht ab. Ja, das wollte
ich noch sagen: wenn Sie gegen Ende der 14 Tage noch so fest wie Freitag
es wollen, dass ich komme, dann komme ich
Ihr F.
1] jene 8 Monate auf einem Dorf: Kafka bezieht sich
hier auf den Aufenthalt bei seiner Schwester Ottla in Zürau von Mitte
September 1917 bis Ende April 1918. Nach dem Ausbruch der Lungentuberkulose
war er in das etwa 70 km von Prag gelegene Dorf in Nordwestböhmen
gefahren, um dort Besserung seines Gesundheitszustandes zu finden.
2] ein . . . sich in Selbstlosigkeit auslöschendes
Mädchen: Julie Wohryzek. Vgl. Brief vom [31. Mai 1920], Anm.
3.
3] Anstalt: Die halbstaatliche Behörde "Arbeiter-UnfallVersicherungs-Anstalt",
Prag, Pořič 7, bei der Kafka seit 1908 angestellt war.
Mittwoch
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at