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[Meran, Mai 1920]

[An:] Herrn Dr Max Brod Prag V Břehová ulice č 8

[Abs.:] Dr Kafka Meran-Untermais Haus Ottoburg


Liebster Max, vielen Dank. München hatte ich mir ähnlich gedacht, die Details sind merkwürdig. Es ist verständlich, vielleicht verderben die Juden Deutschlands Zukunft nicht, aber Deutschlands Gegenwart kann man sich durch sie verdorben denken. Sie haben seit jeher Deutschland Dinge aufgedrängt, zu denen es vielleicht langsam und auf seine Art gekommen wäre, denen gegenüber es sich aber in Opposition gestellt hat, weil sie von Fremden kamen. Eine schrecklich unfruchtbare Beschäftigung, der Antisemitismus und was damit zusammenhängt, und den verdankt Deutschland den Juden.

    Was meinen kleinen Kreis hier anlangt, so haben sich die Gegensätze längst gelegt, ich habe es damals übertrieben, die andern aber auch. Der General z. B. ist mir gegenüber freundlicher als zu andern, was mich übrigens nicht wundert, denn ich habe eine zweifellose gute gesellige Eigenschaft (leider nur diese eine auf Kosten aller andern): ich kann ausgezeichnet, aufrichtig und glücklich zuhören. Es muß sich allmählich in der Familie ausgebildet haben, eine alte Tante von mir hat z. B. ohne besondere innere Beteiligung ein außerordentliches Zuhör-Gesicht: offenen Mund, Lächeln, große Augen, fortwährendes Kopfnicken und unnachahmliche Halsstreckung, die nicht nur demütig ist sondern auch das Ablösen der Worte von den Lippen des andern erleichtern will und erleichtert. Ich habe dann, ohne mich zu überheben, dem Ganzen Wahrheit und Leben gegeben, das Gesicht der Tante, es ist sehr groß, umgibt aber noch immer das meine. Der General deutet das aber unrichtig und hält mich deshalb für ein Kind, letzthin z.B. sprach er die Vermutung aus, dass ich eine schöne Bibliothek habe, korrigierte sich aber gleich im Hinblick auf meine Jugend und meinte, dass ich wohl anfange, mir schon eine Bibliothek anzulegen. Trotzdem man also nicht viel Rücksicht auf mich nehmen mußte, zeigt der Antisemitismus bei Tisch seine typische Unschuld. Ein Oberst verdächtigt bei mir privat den General (dem überhaupt von allen Seiten Unrecht geschieht) eines "dummen" Antisemitismus, spricht man von jüdischer Lumperei Frechheit Feigheit (Kriegsgeschichten geben viel Gelegenheit, auch schreckliche Dinge, z. B. ein kranker Ostjude, der am Abend vor dem Abmarsch ins Feld zwölf Juden Trippergift in die Augen spritzt, ist das möglich?) lacht man dabei mit einer gewissen Bewunderung und entschuldigt sich nachher auch noch bei mir, nur den jüdischen Sozialisten und Kommunisten verzeiht man nichts, die ertränkt man in der Suppe und zerschneidet man beim Braten. Aber auch nicht durchwegs, ein Fabrikant aus Kempten z. B. ist da (auch dort war ein paar Tage lang eine allerdings unblutige und urjüdische Räteregierung) der sehr gut zwischen Landauer, Toller und andern unterscheidet und von Lewin Imponierendes erzählt.

    Mir ginge es gesundheitlich gut, wenn ich schlafen könnte, an Gewicht habe ich zwar zugenommen, aber die Schlaflosigkeit fährt mir besonders in der letzten Zeit manchmal unerträglich dazwischen. Sie hat verschiedene Gründe wohl, einer ist vielleicht mein Briefwechsel mit Wien. Sie ist ein lebendiges Feuer, wie ich es noch nie gesehen habe, ein Feuer übrigens, das trotz allem nur für ihn brennt. Dabei äußerst zart, mutig, klug und alles wirft sie in das Opfer hinein oder hat es, wenn man will, durch das Opfer erworben. Was für ein Mann allerdings auch er, der das erregen konnte.

    Wegen der Schlaflosigkeit werde ich vielleicht früher kommen als ich dürfte. Nach München fahre ich kaum, so sehr mich der Verlag interessieren würde, es wäre ein passives Interesse.

    Herzliche Grüße Dir Deiner Frau und allen Oskar besonders, dem ich noch nicht geschrieben habe, ich entschließe mich, trotzdem kein Hindernis vorliegt so schwer zu notwendigerweise öffentlichen Briefen.


Dein F.        
 


Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


Lewin: Gemeint ist möglicherweise Eugen Leviné (1883-1919), der an der Münchner Räterepublik beteiligt war und im Juni 1919 erschossen wurde.


Briefwechsel mit Wien: Mit Frau Milena Pollak, geb. Jesenská (1896-1944), die Kafka im Herbst 1919 in Wien kennengelernt hatte. Siehe M. Der Briefwechsel ist erst gegen Ende Mai 1920 intensiv geworden.


der Verlag: Der Kurt Wolff Verlag, der Ende 1919 nach München umgezogen war. Zu Kafkas Abkehr von diesem Verlag siehe Joachim Unseld, Franz Kafka. Ein Schriftstellerleben, München/Wien: Hanser 1982, S. 177-191.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at