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An Milena Jesenská

[Meran, Mai 1920]
 

Liebe Frau Milena (ja die Überschrift wird lästig, aber es ist einer jener Griffe in der unsichtbaren Welt, an denen sich Kranke anhalten können und es ist noch kein Beweis der Gesundung wenn ihnen die Griffe lästig werden) ich habe niemals unter deutschem Volk gelebt, Deutsch ist meine Muttersprache und deshalb mir natürlich, aber das tschechische ist mir viel herzlicher, deshalb zerreißt Ihr Brief manche Unsicherheiten, ich sehe Sie deutlicher, die Bewegungen des Körpers, der Hände, so schnell, so entschlossen, es ist fast eine Begegnung, allerdings wenn ich dann die Augen bis zu Ihrem Gesicht heben will, bricht dann im Verlauf des Briefes - was für eine Geschichte! - Feuer aus und ich sehe nichts als Feuer.

Es könnte dazu verführen, an das Gesetz Ihres Lebens, das Sie aufstellen zu glauben. Daß Sie wegen des Gesetzes, unter dem Sie angeblich stehn, nicht bedauert werden wollen, ist ja selbstverständlich, denn die Aufstellung des Gesetzes ist nichts als reiner Hochmut und Überhebung (já jesem ten který platí [Ich bin der, der zahlt]), die Proben, die Sie für das Gesetz gegeben haben, sind allerdings nicht weiter zu besprechen, da kann man nur still Ihre Hand küssen. Was mich betrifft, so glaube ich ja an Ihr Gesetz, nur glaube ich nicht, dass es so blank grausam und auszeichnend für immer über Ihrem Leben steht, es ist zwar eine Erkenntnis, aber nur eine Erkenntnis auf dem Wege und der Weg ist unendlich.

Davon aber unbeeinflußt ist es für den irdisch beschränkten Verstand eines Menschen schrecklich, Sie in dem überheizten Ofen zu sehn, in dem Sie leben. Ich will einmal nur von mir sprechen. Sie hatten, wenn man das Ganze etwa als Schulaufgabe ansieht, mir gegenüber dreierlei Möglichkeiten. Sie hätten mir z. B. gar nichts von sich sagen können. dann hätten Sie mich aber um das Glück gebracht, Sie zu kennen und was noch größer ist als das Glück, mich selbst daran zu erproben. Also durften Sie es mir nicht verschlossen halten. Dann hätten Sie mir manches verschweigen oder schönfärben können und könnten das noch, aber das würde ich in dem jetzigen Stande herausfühlen, auch wenn ich es nicht sagte und es würde mir doppelt weh tun. Also auch das dürfen Sie nicht tun. Bleibt dann als dritte Möglichkeit nur: sich selbst ein wenig zu retten versuchen. Eine kleine Möglichkeit zeigt sich ja in Ihren Briefen. Öfters lese ich von Ruhe und Festigkeit, öfters freilich vorläufig noch von anderem und zum Schluß gar: "reelní hrůza" ["wirkliches Entsetzen"].

Was Sie über Ihre Gesundheit sagen (meine ist gut, nur mein Schlaf ist in der Bergluft schlecht) genügt mir nicht. Die Diagnose des Arztes finde ich nicht übermäßig günstig, vielmehr ist sie weder günstig noch ungünstig, nur Ihr Verhalten kann entscheiden, welche Deutung man ihr geben soll. Gewiß, die Ärzte sind dumm oder vielmehr sie sind nicht dümmer als andere Menschen aber ihre Prätentionen sind lächerlich, immerhin, damit muß man rechnen, dass sie von dem Augenblick an, wo man sich mit ihnen einläßt, immer dümmer werden und was der Arzt vorläufig verlangt ist weder sehr dumm noch unmöglich. Unmöglich ist, dass Sie wirklich krank werden und diese Unmöglichkeit soll bleiben. Worin hat sich Ihr Leben verändert, seitdem Sie mit dem Arzt gesprochen haben - das ist die Hauptfrage.

Dann noch einige Nebenfragen, die Sie mir erlauben mögen: Warum und seit wann haben Sie kein Geld? Sind Sie mit Ihren Verwandten in Verbindung? (ich glaube wohl, denn einmal gaben Sie mir eine Adresse an, von der Sie regelmäßig Pakete bekamen, hat das aufgehört?) Warum haben Sie wie Sie schreiben, früher mit vielen Leuten in Wien verkehrt und jetzt mit niemandem?

Ihre Feuilletons wollen Sie mir nicht schicken, Sie haben also nicht das Vertrauen zu mir, dass ich diese Feuilletons in dem Bilde das ich mir von Ihnen mache, an der richtigen Stelle einzeichnen kann. Gut, dann bin ich also in diesem Punkt mit Ihnen böse, was übrigens kein Unglück ist, denn es schon wegen des Ausgleiches ganz gut, wenn in einem Winkel des Herzens ein wenig Böse-Sein für Sie bereit liegt.

                   Ihr FranzK




1] Muttersprache:Das Wort hat hier den ursprünglichen Sinn "Sprache der Mutter"; Kafkas Mutter sprach lieber deutsch als tschechisch, während der Vater das Tschechische vorzog.


2] Ihre Feuilletons: Milena schrieb seit Januar 1920 regelmäßig Feuilletons für Prager Zeitungen, vor allem für die "Tribuna" und die "Národní listy". Es waren Betrachtungen über das Leben der Menschen in Wien, über Freundschaft und Ehe, über Stimmungen u. a. mehr. Selten waren rein literarische Aufsätze darunter. Unterzeichnet hat Milena ihre Beiträge (außer mit ihrem vollen Namen oder ihrem Vornamen) mit: M., M. P., M. J., Js., mit A. X. Nessey, A. X. und Nessey. (Bemerkenswert ist, dass sie die Signatur M. P. [Milena Pollak] nur bis März 1920 gebraucht, dann, einmal: J.-P. Jesenská-Pollaková]. Danach benutzt sie nur Signaturen, die auf ihren Mädchennamen zurückführen.)


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at