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An Milena Jesenská
Liebe Frau Milena (ja die Überschrift wird lästig, aber es ist
einer jener Griffe in der unsichtbaren Welt, an denen sich Kranke anhalten
können und es ist noch kein Beweis der Gesundung wenn ihnen die Griffe
lästig werden) ich habe niemals unter deutschem Volk gelebt, Deutsch
ist meine Muttersprache und deshalb mir natürlich,
aber das tschechische ist mir viel herzlicher, deshalb zerreißt Ihr
Brief manche Unsicherheiten, ich sehe Sie deutlicher, die Bewegungen des
Körpers, der Hände, so schnell, so entschlossen, es ist fast
eine Begegnung, allerdings wenn ich dann die Augen bis zu Ihrem Gesicht
heben will, bricht dann im Verlauf des Briefes - was für eine Geschichte!
- Feuer aus und ich sehe nichts als Feuer.
Es könnte dazu verführen, an das Gesetz Ihres Lebens, das Sie
aufstellen zu glauben. Daß Sie wegen des Gesetzes, unter dem Sie
angeblich stehn, nicht bedauert werden wollen, ist ja selbstverständlich,
denn die Aufstellung des Gesetzes ist nichts als reiner Hochmut und Überhebung
(já jesem ten který platí [Ich bin der, der zahlt]),
die Proben, die Sie für das Gesetz gegeben haben, sind allerdings
nicht weiter zu besprechen, da kann man nur still Ihre Hand küssen.
Was mich betrifft, so glaube ich ja an Ihr Gesetz, nur glaube ich nicht,
dass es so blank grausam und auszeichnend für immer über
Ihrem Leben steht, es ist zwar eine Erkenntnis, aber nur eine Erkenntnis
auf dem Wege und der Weg ist unendlich.
Davon aber unbeeinflußt ist es für den irdisch beschränkten
Verstand eines Menschen schrecklich, Sie in dem überheizten Ofen zu
sehn, in dem Sie leben. Ich will einmal nur von mir sprechen. Sie hatten,
wenn man das Ganze etwa als Schulaufgabe ansieht, mir gegenüber dreierlei
Möglichkeiten. Sie hätten mir z. B. gar nichts von sich sagen
können. dann hätten Sie mich aber um das Glück gebracht,
Sie zu kennen und was noch größer ist als das Glück, mich
selbst daran zu erproben. Also durften Sie es mir nicht verschlossen halten.
Dann hätten Sie mir manches verschweigen oder schönfärben
können und könnten das noch, aber das würde ich in dem jetzigen
Stande herausfühlen, auch wenn ich es nicht sagte und es würde
mir doppelt weh tun. Also auch das dürfen Sie nicht tun. Bleibt dann
als dritte Möglichkeit nur: sich selbst ein wenig zu retten versuchen.
Eine kleine Möglichkeit zeigt sich ja in Ihren Briefen. Öfters
lese ich von Ruhe und Festigkeit, öfters freilich vorläufig noch
von anderem und zum Schluß gar: "reelní hrůza" ["wirkliches
Entsetzen"].
Was Sie über Ihre Gesundheit sagen (meine ist gut, nur mein Schlaf
ist in der Bergluft schlecht) genügt mir nicht. Die Diagnose des Arztes
finde ich nicht übermäßig günstig, vielmehr ist sie
weder günstig noch ungünstig, nur Ihr Verhalten kann entscheiden,
welche Deutung man ihr geben soll. Gewiß, die Ärzte sind dumm
oder vielmehr sie sind nicht dümmer als andere Menschen aber ihre
Prätentionen sind lächerlich, immerhin, damit muß man rechnen,
dass sie von dem Augenblick an, wo man sich mit ihnen einläßt,
immer dümmer werden und was der Arzt vorläufig verlangt ist weder
sehr dumm noch unmöglich. Unmöglich ist, dass Sie wirklich
krank werden und diese Unmöglichkeit soll bleiben. Worin hat sich
Ihr Leben verändert, seitdem Sie mit dem Arzt gesprochen haben - das
ist die Hauptfrage.
Dann noch einige Nebenfragen, die Sie mir erlauben mögen: Warum und
seit wann haben Sie kein Geld? Sind Sie mit Ihren Verwandten in Verbindung?
(ich glaube wohl, denn einmal gaben Sie mir eine Adresse an, von der Sie
regelmäßig Pakete bekamen, hat das aufgehört?) Warum haben
Sie wie Sie schreiben, früher mit vielen Leuten in Wien verkehrt und
jetzt mit niemandem?
Ihre Feuilletons wollen Sie mir nicht schicken, Sie haben
also nicht das Vertrauen zu mir, dass ich diese Feuilletons in dem
Bilde das ich mir von Ihnen mache, an der richtigen Stelle einzeichnen
kann. Gut, dann bin ich also in diesem Punkt mit Ihnen böse, was übrigens
kein Unglück ist, denn es schon wegen des Ausgleiches ganz gut, wenn
in einem Winkel des Herzens ein wenig Böse-Sein für Sie bereit
liegt.
Ihr
FranzK
1] Muttersprache:Das Wort hat hier den ursprünglichen
Sinn "Sprache der Mutter"; Kafkas Mutter sprach lieber deutsch
als tschechisch, während der Vater das Tschechische vorzog.
2] Ihre Feuilletons: Milena schrieb seit Januar
1920 regelmäßig Feuilletons für Prager Zeitungen, vor allem
für die "Tribuna" und die "Národní
listy". Es waren Betrachtungen über das Leben der Menschen in
Wien, über Freundschaft und Ehe, über Stimmungen u. a. mehr.
Selten waren rein literarische Aufsätze darunter. Unterzeichnet hat
Milena ihre Beiträge (außer mit ihrem vollen Namen oder ihrem
Vornamen) mit: M., M. P., M. J., Js., mit A. X. Nessey, A. X. und Nessey.
(Bemerkenswert ist, dass sie die Signatur M. P. [Milena Pollak] nur
bis März 1920 gebraucht, dann, einmal: J.-P. Jesenská-Pollaková].
Danach benutzt sie nur Signaturen, die auf ihren Mädchennamen zurückführen.)
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at