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[An Julie, Hermann und Ottla Kafka]

[Meran, 4. Mai 1920]
 


Liebe Eltern, besten Dank für Euere Nachrichten. Das Wetter war nun allerdings paar Tage sehr schön, sehr heiß, so dass ich schon mit dem Gedanken gespielt habe, irgendwohin höher in die Berge zu fahren, heute aber gießt es wieder und ist stürmisch, ich bleibe also noch ein Weilchen hier, es ist auch sehr gut für mich gesorgt. - Ich habe zwei Monate Krankenurlaub, die wären Mitte Mai zuende, nun habe ich aber noch den Anspruch auf den gewöhnlichen 5 Wochenurlaub, den ich erst im Herbst ausnützen wollte. Nun scheint es aber, da ich nun schon einmal hier bin, besser, auch den regulären Urlaub gleich mitzuverwenden, ganz oder wenigstens zum Teil. Der Doktor hält es auch für besser, Ihr wohl auch? Allerdings muß das zuerst die Anstalt erlauben das zu erwirken will ich jetzt Ottla bitten.


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Liebe Ottla, also krank? Vorläufig will ich es so nehmen, wie es die Mutter schreibt, nämlich, dass es "Halsentzündung" ist, am 30. IV. "schon viel besser" war, heute am 4. V. also schon vorüber ist. Aber merkwürdig ist es, dass Du zwar mir schreibst, aber nichts von der Krankheit. Nun von der Ferne ist leicht alles merkwürdig, nur verliert es durch diese Erkenntnis nichts von der Merkwürdigkeit. Schreib mir bald. Meine 2 Briefe hast Du wohl bekommen?

Den Weg zum Direktor werde ich Dir jedenfalls gleich beschreiben, geh aber natürlich erst hin, bis Du ganz gesund bist. Es ist im Grunde sehr einfach, die Bitte wird auch sicher bewilligt werden, nur will ich es formell einwandfrei machen, da der Direktor sich schon einmal in einem ähnlichen Fall wegen einer Formlosigkeit über mich geärgert hat. Es handelt sich um folgendes. Ich bekam 2 Monate Krankenurlaub und außerdem wurde mir vom Direktor ausdrücklich der normale 5 wöchentliche Urlaub zugesagt, den ich aber erst im Herbst nehmen wollte, da ich damals nur an Meran dachte, wo man im Juni angeblich schon zu sehr unter der Hitze leidet, und nicht an die Berge. Nun möchte ich aber doch lieber den Urlaub im ganzen nehmen, das wird auch beim Direktor keine Schwierigkeiten machen denn erstens hat er mir selbst einmal unter dem starken Eindruck des ärztlichen Gutachtens gesagt: "wenn es Ihnen dort gut geht, schreiben Sie an die Anstalt und Sie können auch länger als 2 Monate dort bleiben" d. H. der Krankenurlaub kann (unbeschadet des normalen Urlaubs) verlängert werden zweitens verlange ich ha gar nicht die Verlängerung des Krankenurlaubs sondern nur die Bewilligung den normalen Urlaub gleich im Anschluß an den Krankenurlaub verwenden zu dürfen, was die Direktion ohne weiters ohne erst den Vorstand zu fragen sofort bewilligen kann. Ich habe also das beiliegende von Dir noch zu korrigierende Gesuch geschrieben, ganz kurz erstens weil die Geschichte nicht allzusehr aufbauschen will, zweitens weil meine Sprachkenntnisse gegenüber dem unfehlbaren Tschechisch des Direktors zum Aufbauschen nicht ausreichen und drittens weil Du einen Weg willst. Willst Du nicht hingehn kannst Du es auch schicken und die Antwort abholen. Ichdenke es mir so: Du gehst hin zum großen Fikart, beratest Dich mit ihm ob Du den Direktor nicht gerade störst und läßt je nach dem Ergebnis der Beratung entweder das Gesuch dort (mit der Drohung dass Du in 1, 2 Tagen um die Erledigung kommst) oder gehst zum Direktor, überreichst ihm das Gesuch mit einem ehrerbietigen Knicks (ich habe Dir ja solche Knickse schon öfter vorgemacht) und sagst, dass ich mich ihm schön empfehle (einen Brief, allerdings einen deutschen, habe ich ihm geschickt) dass es mir recht gut geht, dass ich bis jetzt täglich 10 dkg zugenommen habe, dass bis jetzt recht schlechtes Wetter war, dass der Arzt es für besser hält, wenn ich die Kur ununterbrochen fortsetze (auch der Anstaltsarzt hat ja eine 3 monatliche Kur empfohlen) dass es bei dem jetzigen Stand der Lira hier verhältnismäßig nicht sehr teuer ist (allerdings habe ich nicht sehr vorteilhaft gekauft und die günstigsten Kauftage schon vorübergehen lassen) im Herbst jedenfalls viel teuerer sein wird, dass ich nun schon einmal die Reise hinter mir habe, u. dgl. Das Gesuch habe ich nicht direkt an die Anstalt geschickt weil es mir darauf ankommt baldige Antwort (telegraphiere mir dann vielleicht "bewilligt") zu bekommen, damit ich mich rechtzeitig danach einrichten kann. Dank, alles Gute und herzliche Grüße dem Fräulein.

Franz


Vielleicht grüßt Du bei der Gelegenheit Hr. Treml von mir und siehst nach, ob dort irgendwelche Post für mich ist




Direktor: Dr. Bedrich Odstrčil, Dozent für Sozialversicherung an der Technischen Hochschule in Prag. An Max Brod schrieb Kafka: "Er ist ein sehr guter freundlicher Mensch, besonders zu mir war er außerordentlich gut, allerdings haben dabei auch politische Gründe mitgespielt, denn er konnte den Deutschen gegenüber sagen, er habe einen der ihrigen außerordentlich gut behandelt, aber im Grunde war es doch nur ein Jude." (Br 308)


das beiliegende von Dir noch zu korrigierende Gesuch: Weil Kafka der "geradezu schöpferischen Sprachkraft" des Direktors Bewunderung entgegenbrachte und "erst durch ihn das gesprochene lebendige Tschechisch" lieben gelernt hatte (Br 308), bat er seine Schwester, die besser tschechisch sprach (vgl. die Anmerkungen zu Nr. 1, 37 und Nr. 53) seinen Antrag auf orthographische Fehler (Akzente) hin zu überprüfen. Das von Ottla revidierte Schreiben ist D 73 gedruckt. Die deutsche Übersetzung lautet: "Löbliche Direktion der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt! Mit Entscheidung des Verwaltungsausschusses wurde mir ein achtwöchiger außerordentlicher Urlaub bewilligt, der am 29. Mai endet. Außerdem steht mir ein regulärer fünfwöchiger Urlaub zu. Laut ärztlichem Befund würde es meine Heilung bedeutend fördern, wenn ich diese Urlaube vereinigen könnte. Ich bitte daher ergebenst die löbliche Direktion, mir dies freundlichst zu bewilligen; ich würde dann den Dienst wieder am dritten Juli antreten. Dr. F. Kafka". Vgl. auch die Anmerkungen zu Nr. 89 und 90.


zum großen Fikart: Vgl. Nr. 98.


Hr. Treml: Dr. Treml war Kafkas Zimmergenosse im Bureau. (Vgl. G. Janouch, Gespräche mit Kafka. Aufzeichnungen und Erinnerungen. Erweiterte Ausgabe, [Frankfurt/M. 1968], S. 39 ff., 92 ff. und Nr. 86)

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at