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An Grete Bloch
Liebes Fräulein Grete, die Zahnschmerzen bedeuten offenbar, dass
Ihnen in Wien auch dieses Schlimmste nicht erspart werden, dass aber
von der Abreise ab alles besser werden soll. Was könnten die Zahnschmerzen
für einen andern Sinn haben? Und warum sollten Sie sinnlos geplagt
werden? Was Schlaflosigkeit und "Kopferweiterung" bedeutet,
das weiß ich auch in diesem Augenblick sehr gut und scheine dieses
Wissen gar nicht verlieren zu wollen, die wirklichen allerschlimmsten Zahnschmerzen
aber hatte ich vielleicht noch nicht und lese davon in Ihrem Brief wie
ein Schuljunge, der ganz ratlos ist. Wie behandeln Sie eigentlich Ihre
Zähne? Putzen Sie sie (ich rede jetzt leider zu der Dame, die vor
Zahnschmerzen auf Höflichkeit und Förmlichkeit nicht achtet)
nach jedem Essen? Was sagen die verfluchten Zahnärzte?Wenn man sich
ihnen einmal ergeben hat, muß man das Elend bis zum Ende auskosten.
Ich glaube, F. hat mit ihrem fast vollständigen Goldgebiß verhältnismäßige
Ruhe. Könnten Sie sich diese Ruhe nicht auch auf diese Weise verschaffen?
In der ersten Zeit mußte ich, um die Wahrheit zu sagen, vor F.'s
Zähnen die Augen senken, so erschreckte mich dieses glänzende
Gold (an dieser unpassenden Stelle ein wirklich höllenmäßiger
Glanz) und das graugelbe Porzellan. Später sah ich, wenn es nur anging,
absichtlich hin, um nicht daran zu vergessen, um mich zu quälen und
um mir schließlich zu glauben, dass das alles wirklich wahr
sei. In einem selbstvergessenen Augenblick fragte ich F. sogar, ob sie
sich nicht schäme. Natürlich schämte sie sich glücklicher
Weise nicht. Jetzt aber bin ich damit, nicht etwa nur durch Gewohnheit
(die blickmäßige Gewohnheit könnte ich mir ja noch gar
nicht erworben haben), fast ganz ausgesöhnt. Ich würde die Goldzähne
nicht mehr wegwünschen, das ist aber kein ganz richtiger Ausdruck,
weggewünscht habe ich sie eigentlich niemals. Nur scheinen sie mir
heute fast passend, besonders präcis und-was nicht geringfügig
ist - ein ganz deutlicher, freundlicher, immer aufzuzeigender, für
die Augen niemals wegzuleugnender, menschlicher Fehler, der mich vielleicht
F. näher bringt, als es ein, im gewissen Sinn auch fürchterliches,
gesundes Gebiß imstande wäre. - Es ist hier nicht ein Bräutigam,
der das Gebiß seiner Braut verteidigt, eher ist hier einer, der das,
was er sagen will, nicht richtig darzustellen imstande ist, der aber außerdem
Ihnen ein wenig Mut machen will, wenn es nicht anders geht, allerdings
nur dann, etwas Radikales gegen Ihre Schmerzen zu tun. Aber vielleicht
ist es besser, auch damit zu warten, bis Sie in Berlin sind.
Das Aussehen meiner diesmaligen Schrift entschuldigt sich dadurch dass
ich mich vorgestern tief in den rechten Daumen geschnitten, einen kleinen
Kübel mit meinem Blut angefüllt habe und nun den Daumen naturheilgemäß,
also ohne Pflaster oder Verband behandele, wodurch er zwar 10 mal langsamer,
aber 100 mal schöner ohne Entzündung, ohne Anschwellen, als eine
wahre Augenweide wieder zusammenheilt.
In der Übersiedlungszeit schicke ich Ihnen den Roman von Weiß
doch vielleicht lieber nicht. Übrigens scheinen Sie mich mißverstanden
[zu] haben, es ist erst das Manuscript, das Buch dürfte erst im Herbst
erscheinen. Wenn Sie es geradezu wollen, schicke ich es Ihnen natürlich
gleich. Pfingsten werde ich Sie also nicht sehn, vielleicht gibt es aber
Ersatz. Mein Madrider Onkel kommt anfangs Juni zu Besuch, ich werde wahrscheinlich
mit ihm wieder nach Berlin, allerdings nur für einen Sonntag, fahren,
dann werde ich Sie also sehen, stelle Ihnen auch Dr. Weiß vor, ja?
Wohnung habe ich schon. 3 Zimmer, Morgensonne, mitten
in der Stadt, Gas, elektr. Licht, Dienstmädchenzimmer, Badezimmer,
1300 K. Das sind die Vorteile. Die Nachteile sind: 4. Stock, kein Aufzug,
Aussicht in eine öde, ziemlich lärmende Gasse. Nun, Sie werden
ja (da Sie die Einladung angenommen haben, wofür ich Ihnen die Hand
küsse) alles genau kennenlernen müssen.
Herzlichste Grüße Ihres Franz K.
[Am Rande] Kann man eigentlich Muzzi schon ein Bilderbuch schicken? Wie
alt ist sie?
Wohnung: Abbildung des Hauses (Lange Gasse Katastralnummer
923, Nr. 5) in Gustav Janouch, Franz Kafka und seine Welt, Wien
1965, S. 146. (Im weiteren zitiert als Janouch, Kafka und seine Welt<.)
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at