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An Grete Bloch

[7. März 1914]
 


Liebes Fräulein Grete, nun kommen Sie also wieder nicht! Sie hätten mir nicht die Hoffnung machen sollen, um sie jetzt so zu enttäuschen. Oder kommen Sie doch nach Prag, nur später, erst nach Budapest? Jemand muß doch die Maschinen hier in Ordnung bringen, alles ist in greulicher Unordnung, glauben Sie.

Über den Termin der Briefe werden wir nichts bestimmen, vielleicht haben Sie recht. Jedenfalls aber, diesen negativen Termin bestimme ich: vor Ihrer Abreise von Wien, in der Hetze, die Sie jetzt durchmachen, dürfen Sie mir keine Zeile mehr schreiben, wohl aber eine Karte, gleich nach Ihrer Ankunft in Budapest. Nun ist also die Reise nach Budapest doch Wahrheit geworden.

Aus Ihrem vorletzten Brief geht mir noch immer im Kopf herum, was Sie von Ihrer Familie sagten. Wir hätten darüber am Sonntag nachmittag irgendwo im Wagen, im freien Land, ruhig und bis zum Ende reden können, heute im Zimmer, mit ewig kochenden Schmerzen im Hinterkopf, nur ein paar Worte. Ich glaube gefunden zu haben, dass Eltern im allgemeinen gerechter gegen die Kinder sind als umgekehrt. Es hat, sogar bis in eine gewisse Tiefe, den gegenteiligen Anschein und ist doch nicht so. Sobald durch gewisse Lebensumstände die natürlich immer vorhandenen Gegensätze straff gezogen werden, ist das Erste die Entstehung von Hochmut hier und dort. Die Eltern kennen die Kinder von Grund aus und sehn noch über sie hinweg, und ebenso glauben die Kinder gegenüber den Eltern zu stehn. Sich demütigen ist schwer, besonders in einem so genau umschriebenen Verhältnis, es ist aber auch für die Beurteilung nicht entscheidend. Entscheidend sind nur die Augenblicke der äußersten Not und da treten -soviel ich sehen konnte, bei Bekannten, bei mir nur ahnungsweise - die Eltern mit einem derartig geraden Schritt aus dem Gemisch von Widerlichkeit, Roheit und Hinterlist, das ihnen angedichtet worden ist, dass man wie vor einer Erscheinung steht. Es gibt mehr oder wenigstens dauernder verkannte Eltern, als es verkannte Kinder gibt. Sie sprechen sich gewiß auch eine Schuld gegenüber Ihren Eltern zu, denn Sie nennen sich eine verschlossene und unfreundlich[e] Tochter. Verschlossensein und Unfreundlichsein heißt aber den Blick abwenden und nicht gerecht sein wollen, denn zum Gerechtsein braucht man das ganze Leben, es ist nicht zu lang dazu. Wohl aber gebe ich zu, dass man vielleicht gegenüber seinen Eltern nicht gerecht sein kann, ich kann es wenigstens durchaus nicht, aber die Möglichkeit der Liebe sollte man selbst in seinem eigenen schlimmsten Falle fühlen können. Kennen Sie die beiliegende Geschichte? Es ist ein Sonderabdruck aus einem Jahrbuch, nehmen Sie sie auf die Reise mit. Vielleicht gefällt sie Ihnen besser als der Heizer.

Über F.'s Verhältnis zu Ihnen kann ich keine eigentliche Auskunft geben. Meine Urteilsfähigkeit ihr gegenüber ist schon so schwach geworden, dass mir alle Urteile gleich falsch vorkommen. Auch sprachen wir wirklich sehr wenig von Ihnen, denn - ich wiederhole - während der etwa 7 Stunden, die wir im ganzen miteinander verbracht haben, hat F., wenigstens meiner Erinnerung nach, überhaupt nur in halben abgebrochenen Sätzen gesprochen. Ich merkte nicht, dass sie Ihnen nahesteht, aber auch nicht fern. Es kann, fällt mir jetzt während des Schreibens ein, kein natürlicher Zustand gewesen sein, in dem sie sich befand. - Das Ausbleiben einer Nachricht von Ihnen schien sie ein wenig unruhig zu machen. Einmal, vor dem Dr. Weiß (nur damals war sie lebhaft und mir gegenüber sehr freundlich) sagte sie scherzend (ich erzählte davon, dass Ihnen die "Galeere" sehr gefallen hatte): "Dir scheint an Frl. Bloch sehr viel zu liegen." Das konnte ich nur bejahen. Über F.'s Verhältnis zu Ihnen kann ich wirklich gar nichts sagen, noch weniger, als über ihr Verhältnis zu mir.

Ihr Franz K.



Die unterschiedliche Textfarbe wurde auf Grund der Ausgabe "Geteilte Post: 28 Briefe an Grete Bloch. Marbach am Neckar, 2011" gewählt. Laut dem Herausgeber Hans-Gerd Koch: "Aus zwölf dieser Briefe trennt sie jene Teile heraus, die persönliche Dinge betreffen oder falsche Rückschlüsse auf ihre Beziehung zu Kafka zulassen, und behält sie zurück. (Beim Abdruck im vorliegenden Band wurden diese fehlenden Teile in grauer Schrift ergänzt.)" Um die Lesbarkeit zu erleichtern, wurde für diese Webseite anstelle von grau eine blaue Schriftfarbe verwendet.

Geschichte: Das Urteil
Jahrbuch: Arkadia. Hrsg. von Max Brod

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at