Voriger Eintrag | Jahresübersicht | Indexseite | Nächster Eintrag |
An Grete Bloch
Liebes Fräulein Grete, nun kommen Sie also wieder nicht! Sie hätten
mir nicht die Hoffnung machen sollen, um sie jetzt so zu enttäuschen.
Oder kommen Sie doch nach Prag, nur später, erst nach Budapest? Jemand
muß doch die Maschinen hier in Ordnung bringen, alles ist in greulicher
Unordnung, glauben Sie.
Über den Termin der Briefe werden wir nichts bestimmen, vielleicht
haben Sie recht. Jedenfalls aber, diesen negativen Termin bestimme ich:
vor Ihrer Abreise von Wien, in der Hetze, die Sie jetzt durchmachen, dürfen
Sie mir keine Zeile mehr schreiben, wohl aber eine Karte, gleich nach Ihrer
Ankunft in Budapest. Nun ist also die Reise nach Budapest doch Wahrheit
geworden.
Aus Ihrem vorletzten Brief geht mir noch immer im Kopf herum, was Sie von
Ihrer Familie sagten. Wir hätten darüber am Sonntag nachmittag
irgendwo im Wagen, im freien Land, ruhig und bis zum Ende reden können,
heute im Zimmer, mit ewig kochenden Schmerzen im Hinterkopf, nur ein paar
Worte. Ich glaube gefunden zu haben, dass Eltern im allgemeinen gerechter
gegen die Kinder sind als umgekehrt. Es hat, sogar bis in eine gewisse
Tiefe, den gegenteiligen Anschein und ist doch nicht so. Sobald durch gewisse
Lebensumstände die natürlich immer vorhandenen Gegensätze
straff gezogen werden, ist das Erste die Entstehung von Hochmut hier und
dort. Die Eltern kennen die Kinder von Grund aus und sehn noch über
sie hinweg, und ebenso glauben die Kinder gegenüber den Eltern zu
stehn. Sich demütigen ist schwer, besonders in einem so genau umschriebenen
Verhältnis, es ist aber auch für die Beurteilung nicht entscheidend.
Entscheidend sind nur die Augenblicke der äußersten Not und
da treten -soviel ich sehen konnte, bei Bekannten, bei mir nur ahnungsweise
- die Eltern mit einem derartig geraden Schritt aus dem Gemisch von Widerlichkeit,
Roheit und Hinterlist, das ihnen angedichtet worden ist, dass man
wie vor einer Erscheinung steht. Es gibt mehr oder wenigstens dauernder
verkannte Eltern, als es verkannte Kinder gibt. Sie sprechen sich gewiß
auch eine Schuld gegenüber Ihren Eltern zu, denn Sie nennen sich eine
verschlossene und unfreundlich[e] Tochter. Verschlossensein und Unfreundlichsein
heißt aber den Blick abwenden und nicht gerecht sein wollen, denn
zum Gerechtsein braucht man das ganze Leben, es ist nicht zu lang dazu.
Wohl aber gebe ich zu, dass man vielleicht gegenüber seinen Eltern
nicht gerecht sein kann, ich kann es wenigstens durchaus nicht, aber die
Möglichkeit der Liebe sollte man selbst in seinem eigenen schlimmsten
Falle fühlen können. Kennen Sie die beiliegende Geschichte?
Es ist ein Sonderabdruck aus einem Jahrbuch, nehmen
Sie sie auf die Reise mit. Vielleicht gefällt sie Ihnen besser als
der Heizer.
Über F.'s Verhältnis zu Ihnen kann ich keine eigentliche Auskunft
geben. Meine Urteilsfähigkeit ihr gegenüber ist schon so schwach
geworden, dass mir alle Urteile gleich falsch vorkommen. Auch sprachen
wir wirklich sehr wenig von Ihnen, denn - ich wiederhole - während der
etwa 7 Stunden, die wir im ganzen miteinander verbracht haben, hat F.,
wenigstens meiner Erinnerung nach, überhaupt nur in halben abgebrochenen
Sätzen gesprochen. Ich merkte nicht, dass sie Ihnen nahesteht,
aber auch nicht fern. Es kann, fällt mir jetzt während des Schreibens
ein, kein natürlicher Zustand gewesen sein, in dem sie sich befand.
- Das Ausbleiben einer Nachricht von Ihnen schien sie ein wenig unruhig
zu machen. Einmal, vor dem Dr. Weiß (nur damals war sie lebhaft und
mir gegenüber sehr freundlich) sagte sie scherzend (ich erzählte
davon, dass Ihnen die "Galeere" sehr gefallen hatte):
"Dir scheint an Frl. Bloch sehr viel zu liegen." Das konnte ich nur
bejahen. Über F.'s Verhältnis zu Ihnen kann ich wirklich gar
nichts sagen, noch weniger, als über ihr Verhältnis zu mir.
Ihr Franz K.
Die unterschiedliche Textfarbe wurde auf Grund der Ausgabe "Geteilte Post: 28 Briefe an Grete Bloch. Marbach am Neckar, 2011" gewählt. Laut dem Herausgeber Hans-Gerd Koch: "Aus zwölf dieser Briefe trennt sie jene Teile heraus, die persönliche Dinge betreffen oder falsche Rückschlüsse auf ihre Beziehung zu Kafka zulassen, und behält sie zurück. (Beim Abdruck im vorliegenden Band wurden diese fehlenden Teile in grauer Schrift ergänzt.)" Um die Lesbarkeit zu erleichtern, wurde für diese Webseite anstelle von grau eine blaue Schriftfarbe verwendet.
Geschichte: Das Urteil
Jahrbuch: Arkadia. Hrsg. von Max Brod
Letzte Änderung: 17.4.2009 | werner.haas@univie.ac.at |