Voriger Eintrag | Jahresübersicht | Indexseite | Nächster Eintrag |
An Felice Bauer
Spät, spät. Wieder einen unnötigen Abend mit verschiedenen
Leuten verbracht. Ohne Halt - ich schreibe ja nicht, und Du bist in Berlin
- lasse ich mich hinschleppen, wohin man will. Eine junge Frau hat von
ihrem kleinen wilden Jungen erzählt, das war noch das Beste, und selbst
das konnte ich bei weitem nicht vollständig ertragen, zuckte mit den
Blicken teilnahmslos - trotzdem sie mir gefiel - über sie hin, verwirrte
sie wahrscheinlich mit diesen mechanischen Augenbewegungen, biß mir
in die Lippen, tun mich bei der Sache zu halten, war aber trotz aller Anstrengung
doch nicht da, war aber durchaus auch nicht anderswo; existierte ich also
vielleicht nicht in diesen zwei Stunden? Es muß so sein, denn hätte
ich dort auf meinem Sessel geschlafen, meine Gegenwart wäre überzeugender
gewesen.
Dafür aber hatte ich einen schönen Vormittag. Noch als ich früh
ins Bureau ging, war mir alles so widerlich und langweilig, dass ich
auf dem Weg ins Bureau, trotzdem gar nicht besonders spät war, plötzlich
eine Strecke lang zu laufen anfing, und das zu keinem andern Zweck, als
die Widerlichkeit der Welt ein wenig in Bewegung zu bringen und dadurch
erträglicher zu machen. Aber als ich dann Deinen Brief hatte und darin
das las, was ich mir in der Nacht zu lesen gewünscht hatte, dass
Du nach Raphael mitfahren willst oder wenigstens daran denkst, bekam die
Welt, in der es also doch solche Möglichkeiten gibt, ein Aussehen
für mich, wie sie es schon durch Wochen nicht gehabt hat. Du würdest
also mitfahren, wir wären dort beisammen, wir würden nebeneinander
am Geländer des Meeres stehn, nebeneinander auf einer Bank unter Palmen
sitzen, alles was geschehen würde, wäre ein "Nebeneinander".
Dieses Herz, in das ich mich zurückziehn wollte von allem und für
immer, würde neben mir schlagen. Es geht mir noch jetzt ein Schauer
über das Gesicht. So muß es ja bei der Vorstellung von Unmöglichem
sein, Du hast es ja auch nur als Märchen geschrieben: "ich suche
Dir ein schönes Plätzchen, und dann lasse ich Dich allein."
Höre Liebste, die Unmöglichkeit dessen entspricht dieser Tonart,
denn selbst wenn die für eine gemeinsame Reise als Voraussetzung nötigen
Wunder eines nach dem andern sich erfüllen sollten, und wir vor dem
Zuge stünden, der in der nächsten Minute nach Genua fahren sollte
- ich müßte doch zurückbleiben, es wäre meine selbstverständliche
Pflicht. Niemals dürfte ich es wagen, in dem Zustand, in dem ich jetzt
z. B. bin, oder in der Voraussicht der immer bestehenden Möglichkeit
eines solchen Zustandes Dein Reisebegleiter sein zu wollen. Ich gehöre
allein in den Winkel eines Coupés; dort soll ich bleiben. Niemals
darf ich den Zusammenhang mit Dir, den ich mit meinen letzten Kräften
erhalten will, durch eine solche Reisebegleitung gefährden.
Franz
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at