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[An Felice Bauer]
[Prag, 22. Dezember 1912; Sonntag]

22. - 23.XII.12

Liebste, ich bin in ziemlicher Verwirrung, nimm mir die Unklarheit dessen, was ich schreiben sollte, nicht übel. Ich schreibe an Dich, weil ich ganz von Dir erfüllt bin und dies irgendwie in der Außenwelt bekanntmachen muß. Ich bin den Sonntag in einem elenden Zustand herumgestrichen, war meist mit Leuten beisammen, habe gar nicht geschlafen, bin unerwartet bei Bekannten erschienen, bin unerwartet weggegangen, so war mir wohl schon seit Monaten nicht gewesen. Ich habe eben schon allzulange nicht geschrieben und fühle mich vom Schreiben ein wenig losgelöst, d.h. im Nichts. Dazu kommt noch, dass ja jetzt die ersehnten Weihnachtsferien da sind und ich im Begriff bin, sie luderhaft zu verschwenden. Unter dem allen drückt sich freilich auch noch der Gedanke herum, dass ich in Berlin sein könnte, bei Dir, in meinem besten Schutz und statt dessen halte ich mich an Prag fest, als fürchtete ich sonst die letzte Sicherheit zu verlieren und als wärest Du eigentlich hier in Prag.
Liebste, als ich gestern abend in solchen schönen Launen nachhause kam und Dein Telegramm auf dem Tische fand, Du liebstes, mitfühlendes Herz, da war ich gar nicht erschrocken, sondern wußte gleich, dass nichts als Trost darin enthalten sein konnte, und als es dann wirklich so war, küßte ich dieses fremde Papier lange mit geschlossenen Augen, bis es mir nicht mehr genügte und ich es ganz gegen das Gesicht drückte.

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Zu welcher Zeit das Vorige geschrieben war, das würdest Du, Liebste, gewiß nicht erraten. Es dürfte 4 Uhr gewesen sein. Ich hatte mich unter der Herrschaft des Telegramms sehr früh schlafen gelegt, vor 9 Uhr (ich gehe mit mir ein wenig willkürlich um), war um 2 Uhr aufgekommen und hatte wach mit offenen Augen, aber noch unter dem Einfluß des Schlafes und darum in ununterbrochenen und etwas zauberhaften Vorstellungen an Dich und an eine mögliche Berliner Reise gedacht. Es ergaben sich schöne leichte Verbindungen ohne jede Störung, die Automobile flogen wie Liebende, Telephongespräche klappten als hielte man sich währenddessen bei der Hand, ich will lieber gar nicht weiter daran denken - je wacher ich wurde, desto unruhiger wurde ich auch, stieg dann gegen 4 aus dem Bett, turnte, wusch mich und schrieb für mich zwei Seiten, ließ aber auch das vor Unruhe, schrieb dann die vorigen zwei Seiten, ließ dann auch das und ging mit brummendem Kopf ins Bett zurück, wo ich bis 9 Uhr früh in einem schweren Schlafe liegen blieb, in dem übrigens auch Du erschienen bist zu einem kleinen Gespräch in einer befreundeten Familie. - Diese ganze sonderbare Lebensweise hat natürlich ihren Grund nur darin, dass ich erstens lange nichts geschrieben habe und zweitens fast frei bin, ohne mich bisher daraufhin eingerichtet zu haben.

Liebste Felice! Dein Franz

[Da die beiden Namen des Platzmangels wegen dicht nebeneinander stehen, schrieb Kafka dazu an den Rand]
So sind wir wenigstens hier beisammen.

[Beigelegt, auf einem einzelnen Blatt]

[23 Dezember 1912]

Eben ist Dein Brief von Samstag nacht gekommen. Den beantworte ich erst nachmittag, sonst bekämest Du diesen Brief nicht mehr rechtzeitig um 9. Wird sich jetzt wirklich alles so bessern, wie es nach diesem Brief den Anschein hat? Möge es Gott geben. Im übrigen beschämt mich Dein Brief durch seine Festigkeit und gute Laune, aber ich werde auch schon wieder hochkommen. Ach wenn das Frl. Lindner wüßte, wie schwer es ist, so wenig zu schreiben, als ich es tue!
Letzthin erwähntest Du eine platzen wollende Bombe. Das Eintreten der Mutter unterbrach Dich im weitern Schreiben. Wie ist es mit jener Bombe gewesen? - Laß mich Dir, Liebste, mit Küssen lieber statt mit Worten sagen, wie ich Dich liebe.

Franz