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[An Felice Bauer]
[Prag, 23. November 1912; Montag]

23.XII.12

Liebste Felice, ich habe also diese zwei kostbaren Tage so eingeteilt, dass ich Vormittag auf ein Weilchen ins Bureau gehe, um die Post anzuschauen, im übrigen aber als freier Mann lebe. Samstag und Sonntag, bis auf das kurze Schreiben in der Nacht, sind vertrödelt worden, aber das ist doch noch nicht so arg, Liebste. Sag, dass es noch nicht so arg ist.
Allmählich fange ich übrigens an, in den Genuß dieses Wohllebens einzudringen und die Verwirrung des gestrigen Tages und der Nacht verliert sich allmählich. Was sagst Du zu meinem Einfall, Dein gestriges Telegramm einrahmen zu lassen und über meinem Schreibtisch aufzuhängen. Aus Deinem Samstagnachtbrief sehe ich ja jetzt, dass Du den Einfall zu telegraphieren schon Samstag hattest, aber trotzdem - was dachtest Du Liebste bei dem Aufgeben des Telegramms, da Du doch die Bedeutung, die es für mich bekam, gar nicht ahnen konntest, besonders da mein Brief, den Du Vormittag bekommen hattest, meiner Erinnerung nach verhältnismäßig ruhig war. Und außerdem wolltest Du ursprünglich das Telegramm vormittag aufgeben; hätte ich es aber vormittag bekommen, so wäre es für mich nur (nur! nur!) das Zeichen Deiner Liebe und Güte gewesen, aber abend (Du scheinst es um 4 Uhr aufgegeben zu haben) hat es mich geradezu vom Boden aufgerichtet. Die Nähe eines solchen Telegramms ist etwas ganz anderes als die Ferne, aus der die Briefe langsam herwandern. Nun weiß ich ja auch, dass es mit Dir, also mit uns beiden, bis 4 Uhr nachmittag gut stand, wenn ich auch noch keinen Sonntagsbrief bekommen habe. Vielleicht kam der Brief später ins Bureau, früh war er nicht dort, jedenfalls werde ich noch nachschauen, vielleicht hast Du Dich in der Adresse geirrt. Den heutigen Nachtbrief adressiere ich jedenfalls schon in Deine Wohnung. Deine Vorsätze, Liebste, sind ausgezeichnet, und wenn Du sie genau einhältst, werde ich eine musterhafte Geliebte haben. Aber das mußt Du ja auch sein, wenn Du einen so verlotterten Liebsten hast. Wenn Du keine roten Wangen hast, wie soll ich sie bleich machen, da das doch mein Beruf ist. Wenn Du nicht frisch bist, wie soll ich Dich müde machen, wenn Du nicht lustig bist, wie soll ich Dich betrüben. Liebste, meine Liebste, aus Liebe wollte ich, nur aus Liebe, mit Dir tanzen, denn ich fühle jetzt dass das Tanzen, dieses Sichumarmen und Sichdabeidrehn, untrennbar zur Liebe gehört und ihr wahrer und verrückter Ausdruck ist. Ach Gott, viel habe ich geschrieben in diesem Brief, aber mein Kopf ist ebenso voll von Liebe, wie von Mitteilbarem.

Dein Franz

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at