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[An Felice Bauer]
[Prag, 22. Dezember 1912; Sonntag]

Vormittag

22.XII.12


Weißt Du Liebste, dass mich die Geschichte von Hr[n]. Neble, vorausgesetzt dass sie der einzige Grund Deiner Niedergeschlagenheit in den letzten Tagen war, geradezu überglücklich macht. Das war also alles? Arg genug natürlich mag es gewesen sein. Daß Du aber darin Siegerin bleibst, hätte ich Dir gleich voraussagen können; den Dir. Heinemann beneide ich um seine wunderbare Rolle, die ich noch viel schöner hätte spielen wollen. "Schließen Sie einmal die Tür, Frl. Bauer", hätte ich auch gesagt. Und dann hättest Du auch erzählen müssen, denn schließlich bist Du ja mir gegenüber nicht viel weniger verschwiegen als gegenüber Deinem Direktor; warum, frage ich mich, habe ich von der Geschichte dieses Neble nicht gleich am ersten Tag erfahren dürfen? Aber wie ich mir hätte erzählen lassen, wenn ich Dein Direktor wäre! Nacht wäre es geworden und Morgen, und das Personal wäre schon zu neuer Arbeit gekommen und Du hättest noch immer auf meine unendlichen Fragen unendlich erzählen müssen. Nur eines hätte ich wahrscheinlich schlechter gemacht als Dein Direktor; bei Deinen ersten Tränen hätte ich möglicherweise trotz meiner sonstigen Tränenlosigkeit sehr undirektorialmäßig mitweinen müssen. Und es wäre mir, um die Würde zu wahren, nichts übrig geblieben, als mein Gesicht an Deines zu legen, um die Tränen ununterscheidbar sich vermischen zu lassen. Liebste, liebste Felice! Was für Leiden werden noch über Dich geschickt!
Gerätst Du leicht in Zorn? Ich nicht eigentlich, wenn ich aber einmal in ihn komme, dann fühle ich mich wirklich Gott näher als sonst. Wenn sich das Blut mit einem Male von oben bis unten erhitzt, die Fäuste in den Taschen zucken, der ganze versammelte Besitz von jeder Selbstbeherrschung sich lossagt und diese Ohnmacht, sich zu beherrschen, von der andern, und zwar der eigentlichen Seite aus gesehn eine Macht bedeutet, dann erfährt man, dass der Ärger nur in seinen niedrigen Anfängen vermieden werden soll. Erst gestern abend war ich sehr nahe daran, einen Menschen zu ohrfeigen, und zwar nicht nur mit einer Hand, sondern mit beiden, und nicht nur einmal, sondern fortgesetzt. Schließlich habe ich mich doch mit Worten begnügt, aber sie waren tüchtig. Es ist gar nicht unmöglich, dass die Erinnerung an diesen Neble mitgewirkt hat.

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Nachmittag

So, meine liebste Felice, nun bin ich wieder bei Dir. Gestern abend, als ich von dem großen Spaziergang zurückgekommen war, ich hatte ihn allein machen wollen - aber auf dem Weg zum Bahnhof war ich der ganzen Verwandtschaft begegnet, die gerade von meiner verheirateten Schwester kam, und meine jüngste Schwester und eine Cousine gaben mit Bitten nicht nach und ich mußte sie mitnehmen - als ich also von jenem Spaziergang nachhause kam, fiel es mir ein und ließ mich lange nicht los: Ob Du mir nicht böse bist wegen meines übernervösen zweiten Samstagbriefes oder eigentlich nicht böse (denn Unrechtes hatte ich doch nichts geschrieben), aber enttäuscht darüber, dass auch ich nicht der Rechte bin, demgegenüber man rücksichtslos - und das ist ja das schönste, erleichterndste Klagen - also ganz rücksichtslos gegen sich und die Umwelt klagen kann? Und ich hatte mit meiner Sorge gestern abend nicht ganz unrecht, das glaube ich aus Deinem Expreßbrief zu sehn. Dort steht z.B.: "Als Dein Brief mit der 10 Uhr Post heute kam, war ich noch trauriger, noch bedrückter als vorher." Was ist das doch für ein prächtiger Liebhaber, der solche Briefe an die Geliebte schreibt und ihr Leid vermehrt. Nein höre, Liebste, Du verläßt mich nicht, das hast Du mir schon oft gesagt, aber ich will in allem, in allem Dir ganz nahe sein, verlaß mich mit nichts, was Du hast, verlaß mich also auch mit Deinen Klagen nicht. Bleib mir ganz, Liebste, bleib mir, wie Du bist, nicht ein Härchen auf Deinem Kopf wollte ich anders gebogen haben, als es ist. Werde nicht lustig, wenn Du es nicht bist. Zur Fröhlichkeit genügen nicht Entschlüsse, es sind außerdem auch fröhliche Verhältnisse nötig. Du wirst mir gar nicht besser gefallen, wenn Du besser aussehn wirst, sondern Du wirst mir bloß genau so gut gefallen wie jetzt. Die Nähe, in der ich mich bei Dir fühle, ist zu groß, als dass irgendwelche Unterschiede Deiner Laune, Deines Aussehns auf mein Verhältnis zu Dir wirken könnten. Ich werde bloß unglücklich sein, wenn Du unglücklich sein wirst und ich werde aus Liebe zu Dir ebenso wie aus Eigennutz das Unglück zu beseitigen suchen - ein anderer Einfluß des Unglücks wird nicht zu merken sein. Außer eben in flüchtigen, während des Tages hingeschmierten Briefen, in denen man über die augenblickliche nichtssagende Erregung nicht herauskommt. Wieder eine Warnung übrigens vor dem zweimaligen Schreiben.
Und klage ich denn nicht? Es ist ja schon fast ein Heulen! Gestern z.B. bin ich im Bureau vollständig zusammengeklappt. Den Kopf hatte ich voll Schlafsucht (dabei habe ich schon nächtelang nichts geschrieben, außer an Dich), wo ich mich anlehnte, dort blieb ich auch lehnen, in meinen Lehnsessel fürchtete ich mich zu setzen, aus Angst nicht mehr aufstehn zu können, vom Federhalter benutzte ich nur das untere Ende, um es mir beim Lesen von Akten in die Schläfen zu drücken und mich so wachzuhalten - nachmittag schlief ich dann ein wenig aber abend war mir noch immer nicht besser, darum machte ich dann den Spaziergang, schlief aber wieder nur ganz leicht wie auf der Wache. Wenn schon nicht mit den Armen, so wollen wir uns, Liebste, doch mit Klagen umarmen.

Franz


Verheirateten Schwester: Gabriele ("Elli") Kafka.
Jüngste Schwester: Ottilie ("Ottla") Kafka.

Letzte Änderung: 29.4.2016werner.haas@univie.ac.at