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[An Felice Bauer]
[Prag, 15. November 1912; Freitag]
[Briefkopf der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt]

15. XI. 12

Du, das "Du" ist doch keine solche Hilfe, wie ich dachte. Und heute, also schon am zweiten Tag, bewährt es sich nicht. Ich hätte doch ruhig sein können und nichts war erklärlicher, als dass heute kein Brief kommt. Aber was mache ich? Da flattere ich auf den Gängen herum, schaue jedem Diener auf die Hände, gebe unnötige Aufträge, um nur jemanden hinunter zur Post eigens schicken zu können (denn ich bin im 4ten Stock, der Posteinlauf wird unten gesichtet, unsere Briefträger sind unpünktlich, außerdem haben wir Vorstandswahlen, der Einlauf ist ungeheuer und ehe man Deinen Brief aus den dummen Massen herausfindet, kann ich oben vor Ungeduld vergangen sein) schließlich laufe ich aus Mißtrauen gegen alle Welt selbst hinunter und finde natürlich nichts, denn wenn etwas gekommen wäre, hätte ich es ja so bald als möglich bekommen, denn 3 Leute sind von mir verpflichtet, mir Deinen Brief vor aller andern Post heraufzubringen. Wegen dieser ihrer Aufgabe verdienen die 3 hier genannt zu werden: Der erste ist der Diener Mergl, demüthig und bereitwillig, aber ich habe einen unbeherrschbaren Widerwillen gegen ihn, weil ich die Beobachtung gemacht habe, dass, wenn einmal meine Hoffnung hauptsächlich auf ihn gestellt ist, nur in den seltensten Fällen Dein Brief kommt. Das unabsichtlich grausame Aussehn dieses Menschen geht mir in solchen Fällen durch Mark und Bein. So war es ja auch heute, zumindest die leere Hand hätte ich prügeln wollen. Und doch scheint er Anteil zu nehmen. Ich schäme mich nicht einzugestehn, dass ich ihn schon einigemal an solchen leeren Tagen um seine Meinung darüber gefragt habe, ob vielleicht am nächsten Tag der Brief kommen wird und er war davon immer unter Verbeugungen überzeugt. Einmal erwartete ich - fällt mir jetzt ein - mit unsinniger Bestimmtheit einen Brief von Dir, es dürfte noch in dem schlimmen ersten Monat gewesen sein, da macht mir der Diener auf dem Gang die Meldung, die Sache sei angekommen und liege auf meinem Tisch. Aber als ich laufend zu meinem Tische komme, liegt dort nur eine Ansichtskarte von Max aus Venedig mit einem Bild von Bellini, darstellend: "Die Liebe, die Beherrscherin des Erdballs". Aber was soll man mit Allgemeinheiten anfangen in seinem einzelnen, selbständig schmerzenden Fall! - Der zweite Bote ist der Chef des Expedits Wottawa, ein alter, kleiner Junggeselle mit einem faltigen, von verschiedenartigst nuancierten Farbflecken bedeckten, von Bartstoppeln starrenden Gesicht, und immer schmatzt er mit nassen Lippen an einer Virginia herum, aber überirdisch schön ist er, wenn er aus seiner Brusttasche, zwischen der Türe stehend, Deinen Brief zieht und mir übergibt, was doch - wohlverstanden - nicht eigentlich seine Aufgabe ist. Er ahnt etwas davon, denn er sucht immer, den zwei andern zuvorzukommen, wenn er nur Zeit hat, und bedauert es nicht, die 4 Stockwerke hinaufsteigen zu müssen. Allerdings ist mir wieder der Gedanke peinlich, dass er manchmal, um mir den Brief selbst übergeben zu können, ihn vor dem Diener zurückhält, der ihn hie und da früher bringen würde. Ja ohne Unruhe geht es eben nicht ab. - Die dritte Hoffnung ist das Fräulein Böhm. Ja also die macht das Überreichen des Briefes geradezu glücklich. Strahlend kommt sie und gibt mir den Brief, als sei es zwar scheinbar ein fremder Brief, betreffe aber in Wahrheit nur uns zwei, sie und mich. Ist es einem der zwei andern gelungen, den Brief zu bringen, und sage ich es ihr dann, möchte sie fast weinen und sie nimmt sich fest vor, den nächsten Tag besser aufzupassen. Aber das Haus ist sehr groß, wir haben über 250 Beamte und es schnappt ihr leicht ein anderer den Brief weg.
Heute waren alle drei ohne Arbeit. Ich bin neugierig, wie oft ich das noch wiederholen werde, da es doch ganz ausgeschlossen war, dass heute ein Brief kommt. Es war auch nur heute, dass ich unruhig gewesen bin, an diesem Übergangstag, wenn Du nach dem morgigen Brief nicht schreibst, werde ich mich gar nicht mehr darum kümmern. Früher sagte ich mir: "Sie schreibt nicht" und das war schlimm, jetzt aber werde ich sagen "Liebste, Du bist also spazierengegangen" und darüber werde ich mich nur freuen können. Um wieviel Uhr bekamst Du eigentlich meinen Nachtbrief?

Dein Franz

Letzte Änderung: 29.4.2016werner.haas@univie.ac.at