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[An Felice Bauer]
[Prag, 14. November 1912; Donnerstag]

14. XI. 12

Liebste, laß Dich nicht stören, ich sage Dir bloß Gute Nacht und habe deshalb mitten auf einer Seite mein Schreiben unterbrochen. Ich habe Angst, dass ich Dir bald nicht mehr werde schreiben können, denn um jemandem (ich muß Dich mit allen Namen benennen, darum heiße einmal auch "jemand") schreiben zu können, muß man sich doch vorstellen, dass man sein Gesicht vor sich hat, an das man sich wendet. Und vorstellbar ist mir Dein Gesicht sehr gut, daran würde es nicht scheitern. Aber die noch viel stärkere Vorstellung fängt immer häufiger an mich zu halten, dass mein Gesicht auf Deiner Schulter liegt und dass ich mehr erstickt als verständlich zu Deiner Schulter, zu Deinem Kleid, zu mir selbst rede während Du keine Ahnung haben kannst, was dort gesprochen wird.
Schläfst Du jetzt? Oder liest Du noch, was ich verurteilen würde? Oder bist Du gar noch auf einer Probe, was ich schon gar nicht hoffen will. Es ist nach meiner immer bummelnden, niemals aber verdorbenen Uhr in 7 Minuten ein Uhr. Merke, du mußt mehr schlafen als andere Menschen, denn ich schlafe ein wenig, nicht viel weniger als der Durchschnitt. Und ich weiß mir keinen bessern Ort, um meinen ungenützten Anteil am allgemeinen Schlaf aufzubewahren, als Deine lieben Augen.
Und bitte keine wüsten Träume! Ich mache in Gedanken einen Rundgang um Dein Bett und befehle Stille. Und nachdem ich hier Ordnung gemacht und vielleicht noch einen Betrunkenen aus der Immanuelkirchstraße gedrängt habe, kehre ich, ordentlicher auch in mir, zu meinem Schreiben oder vielleicht gar schon zum Schlaf zurück.
Schreib mir doch immer, Liebste, was Du zur beiläufigen Zeit meiner Briefe beiläufig gemacht hast. Ich werde danach dann meine Ahnungen kontrollieren. Du wirst nach Möglichkeit die Tatsachen meinen Ahnungen nähern und wäre es dann so unglaublich, dass sie beide endlich nach vielen Proben zusammentreffen und eine einzige große Wirklichkeit werden, derer man immer sicher ist. - Jetzt schlägt es also 1 vom Turm genau nach der Prager Zeit.
Adieu, Felice, adieu! Wie kamst Du zu dem Namen? Und flieg mir nicht fort! fällt mir irgendwie ein, vielleicht durch das Wort "Adieu", das solche Flugkraft hat. Es müßte ja, denke ich mir, ein ausnehmendes Vergnügen sein, in die Höhe wegzufliegen, wenn man dadurch ein schweres Gewicht loswerden kann, das an einem hängt, wie ich an Dir. Laß Dich nicht verlocken durch die Erleichterung, die winkt. Bleib in der Täuschung, dass Du mich nötig hast. Denke Dich noch tiefer hinein. Denn sieh, Dir schadet es doch nichts, willst Du mich einmal los sein, so wirst Du immer genug Kräfte haben, es auch zu werden, mir aber hast Du in der Zwischenzeit ein Geschenk gemacht, wie ich es in diesem Leben zu finden auch nicht geträumt habe. So ist es, und wenn Du auch im Schlaf den Kopf schüttelst.

Franz

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at