[An Felice Bauer]
[Prag, 15. November 1912; Freitag]
15. XI. 12, 11½ abends
Liebste, heute schreibe ich Dir vor meinem Schreiben, damit ich nicht das Gefühl habe, Dich warten zu lassen, damit Du nicht mir gegenüber bist, sondern an meiner Seite und damit ich beruhigter dann für mich schreibe, denn, im Vertrauen gesagt, ich schreibe seit paar Tagen schrecklich wenig, ja fast nichts, ich habe zu viel mit Dir zu tun, zu viel an Dich zu denken.
Von den zwei Büchern, die vielleicht gar nicht rechtzeitig eintreffen werden, ist das eine für Deine Augen, das andere aber für Dein Herz. Das erste ist wirklich ein wenig willkürlich und zufällig ausgewählt, so schön es ist; es gibt viele Bücher, die ich Dir vor diesem geben müßte; nun soll es aber zeigen, dass zwischen uns auch schon das Willkürliche erlaubt ist, weil es sich ins Notwendige verwandelt. Die "Education sentimentale" aber ist ein Buch, das mir durch viele Jahre nahegestanden ist, wie kaum zwei oder drei Menschen; wann und wo ich es aufgeschlagen habe, hat es mich aufgeschreckt und völlig hingenommen, und ich habe mich dann immer als ein geistiges Kind dieses Schriftstellers gefühlt, wenn auch als ein armes und unbeholfenes. Schreib mir sofort, ob du französisch liest. Du bekommst dann auch die neue französische Ausgabe. Schreib, dass Du französisch liest, auch wenn es nicht wahr ist, denn diese französische Ausgabe ist prachtvoll.
Zu Deinem Geburtstag (er fällt also mit dem Deiner Mutter zusammen, so unmittelbar setzt Du also ihr Leben fort?) darf gerade ich Dir gar nichts wünschen, denn wenn es auch sehr wahrscheinlich dringende Wünsche für Dich gibt, die gleichzeitig gegen mich gerichtet wären - nun, ich kann sie nicht aussprechen; was ich aber sagen könnte, wäre nur Eigennützigkeit. Damit ich nun, so wie es sein muß, ganz sicher schweige und keinen Wunsch aussprechen kann, erlaube mir, doch nur in der Ahnung, doch nur dieses eine Mal, Deinen geliebten Mund zu küssen.
Franz
Schriftstellers: Gustave Flaubert (12.12.1821 - 7.5.1880)