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[An Felice Bauer]
[Prag, 5. November 1912; Dienstag]

5.XI.12

Liebes Fräulein Felice!
Wenn Sie wollen, dass ich Ihnen immer so schreibe, wie es wirklich ist, dann werden Sie mir auch meinen gestrigen verruchten, überflüssigen Schreckbrief leicht verzeihen, denn so wie es auf dem Papierfetzen stand, so war es auch tatsächlich Wort für Wort. Heute sind natürlich Ihre beiden letzten Briefe gekommen, der eine früh, der andere um zehn, ich habe nicht das geringste Recht zu klagen, bekomme sogar das Versprechen, jeden Tag einen Brief zu bekommen (Herz, höre, jeden Tag einen Brief!) und kann froh sein, wenn Sie mir verzeihen. Nur möchte ich Sie beschwören, wenn ein Brief schon für mich fertig ist, lassen Sie mich nicht darunter leiden, dass Sie keine Marke bei der Hand haben, werfen Sie ihn nur ungescheut und kräftig ohne Marke ein.
Das Leid ist, dass ich Ihnen, wenn nicht Sonntag ist, fast nur in meiner stumpfsten Tagesstunde von 3-4 Uhr schreiben kann. Im Bureau geht es nur selten - wie muß ich mich zurückhalten, wenn ich Ihren Brief gelesen habe! - schriebe ich Ihnen aber nicht jetzt, könnte ich dann gar nicht einschlafen vor Unbefriedigung, auch bekämen Sie den Brief nicht mehr am nächsten Tag und abends drängt sich auf meiner Stundeneinteilung die Zeit zu sehr.
Übrigens sehe ich aus Ihrem Brief, dass ich auch an Feiertagen unvernünftig schreibe. Mein Herz is wohl verhältnismäßig ganz gesund, aber es ist eben für ein menschliches Herz überhaupt nicht leicht, dem Trübsinn des schlechten Schreibens und dem Glück des guten Schreibens Stand zu halten. In den Sanatorien war ich nur wegen des Magens und der allgemeinen Schwäche und nicht zu vergessen der in sich selbst verliebten Hypochondrie. Aber von dem allen muß ich einmal ausführlicher schreiben. Nein, berühmten Ärzten glaube ich nicht; Ärzten glaube ich nur, wenn sie sagen, dass sie nichts wissen und außerdem hasse ich sie (hoffentlich lieben Sie keinen). Freilich Berlin würde ich mir schon zu einem freien, ruhigen Leben verordnen lassen, aber wo findet sich dieser mächtige Arzt? Und gerade die Immanuel-Kirchstraße muß gut für müde Menschen sein. Ich kann sie Ihnen beschreiben. Hören Sie: "Von Alexander Platz ziht sich eine lange, nicht belebt Strasse, Prenzloer Strasse, Prenzloer Allee. Welche hat viele Seitengässchen. Eins von diese Gässchen ist das Immanuel Kirchstrass. Still, abgelegen, weit von den immer roschenden Berlin. Das Gässchen beginnt mit eine gewenliche Kirche. Wi sa wi steht das Haus Nr 37 ganz schmall und hoch. Das Gässchen ist auch ganz schmall. Wenn ich dort bin, ist immer ruhig, still und ich frage, ist das noch Berlin?" So beschreibt mir in einem Brief, den ich gestern bekommen habe, der Schauspieler Löwy Ihre Gasse. Die letzte Frage ist dichterisch, finde ich, und das Ganze ein treue Beschreibung. Ich habe ihn vor einiger Zeit darum gebeten, ohne Angabe eines Grundes, und er schreibt mir das ebenso ohne weiter zu fragen. Allerdings wollte ich von dem Haus Nr 30 hören (nun wohnen Sie aber gar 29, wenn ich nicht irre) ich weiß nicht, warum er das Haus 37 für mich ausgesucht hat. Jetzt fällt mir übrigens ein, dass in diesem Haus vielleicht die Druckerei jenes Plakates ist. Nach diesem letzten Brief scheint die Truppe ihre letzte Berliner Vorstellung sonntags gegeben zu haben, aber es ist, soweit ich dies aus dem Brief herauslesen kann, möglich, dass sie nächsten Sonntag wieder spielt. Ich schreibe dies wieder nur zur Korrektur meiner letzten Angaben und mit allen Vorbehalten, die ich dort für den Ratschlag, dieses Theater zu besuchen machte.
Das zauberhafte Wort steht zufällig auch in Ihrem vorletzten Brief und weiß es nicht. Es ist dort verloren zwischen vielen andern und wird, fürchte ich, in unseren Briefen niemals zu dem Range kommen, den es verdient, denn ich spreche es zuerst auf keinen Fall aus und Sie werden es natürlich, selbst wenn Sie es erraten sollten, als erste nicht aussprechen. Vielleicht ist es gut so, denn, den Eintritt der Wirkung jenes Wortes vorausgesetzt, würden Sie Dinge in mir finden, die Sie nicht leiden wollten und was sollte ich dann anfangen?
Mein Schreiben und mein Verhältnis zum Schreiben würden Sie dann vor allem anders ansehen und mir nicht mehr "Maß und Ziel" anraten wollen. "Maß und Ziel" setzt die menschliche Schwäche schon genug. Müßte ich mich nicht auf dem einzigen Fleck, wo ich stehen kann, mit allem einsetzen, was ich habe? Wenn ich das nicht täte, was für ein heilloser Narr wäre ich! Es ist möglich, dass mein Schreiben nichts ist, aber dann ist es auch ganz bestimmt und zweifellos, dass ich ganz und gar nichts bin. Schone ich mich also darin, dann schone ich mich, richtig gesehen, eigentlich nicht, sondern bringe mich um. Für wie alt halten Sie mich übrigens? Vielleicht war an unserem Abend davon die Rede, ich weiß es nicht, vielleicht aber haben Sie nicht darauf geachtet.
Leben Sie wohl und meinen Sie es weiter gut mit mir und legen Sie nur immer ruhig die Briefe an Frau Sophie angefangen beiseite. Ich habe Frau F. sehr gern, aber nicht so gern, dass ich ihr Ihre Briefe gönnte. Nein, wir sind in keinem Briefverkehr. Ich habe ihr nur 3 Briefe geschrieben: der erste war Klage Ihretwegen, der zweite Unruhe Ihretwegen, der dritte Dank Ihretwegen. Adieu!

Ihr Franz K.


F.: Friedmann.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at