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[An Felice Bauer]
[Prag, 6. November 1912; Mittwoch]
[Briefkopf der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt]

6.X.12

Liebes Fräulein Felice! Aber man zerreißt Sie ja vor meinen Augen! Geben Sie sich nicht mit zuviel Menschen ab, mit unnötig vielen? Woran gewiß nichts Arges wäre, wenn Sie nur mehr Zeit dafür hätten. Machen Sie nicht viele Arbeiten, Besuche, gehen Sie nicht zu manchen Unterhaltungen, bei denen nichts gewonnen wird als Unruhe? Ich bin da ein wenig lehrhaft, ohne von der Sache viel zu wissen und zu verstehn, aber Ihr letzter Brief ist so nervös, dass man das Verlangen bekommt, Ihre Hand einen Augenblick lang festzuhalten. Ich sage damit nichts gegen Einzelnes, nichts gegen die guten Verlockungen beim Professor, wenn ich auch über dem "Wasser und Gas" die Augen aufgerissen habe, nichts auch gegen das Stiftungsfest, zumal bei solchen Festen öfters Gruppenaufnahmen gemacht werden, die man leicht verschenken kann, ohne dass man eigentlich seine Photographie ausdrücklich mitschenkt. Und Auswärtigen kann man damit eine große Freude machen, wenn man will.
Über das Jargontheater habe ich gewiß nicht ironisch gesprochen, vielleicht gelacht, aber das gehört zur Liebe. Ich habe sogar vor einer Unzahl von Menschen, wie mir jetzt vorkommt, einen kleinen Einleitungsvortrag gehalten und der Löwy hat dann gespielt, gesungen und recitiert. Leider ist das Geld, das aus jener Unzahl herausgeschlagen wurde, nicht entsprechend unzählig gewesen. Über die Berliner Vorstellungen weiß ich nicht mehr als ich gestern schrieb, sonst enthält nämlich Löwy's letzter Brief nur Klage und Jammer. Nebenbei Klage auch darüber, dass sich in Berlin an Wochentagen nichts verdienen läßt, ein Vorwurf, den ich der Berlinerin nicht verschweigen darf. Im übrigen ist L. ein, wenn man ihn gewähren läßt, geradezu ununterbrochen begeisterter Mensch, ein "heißer Jude", wie man im Osten sagt. Jetzt allerdings ist er aus verschiedenen Gründen, die zu erzählen zu lang, wenn auch nicht langweilig wäre, über alle Maßen unglücklich und das Schlimme ist, dass ich gar nicht weiß, wie ihm zu helfen wäre.
Meine sonntägliche Erwartung Ihres Briefes ist leicht zu erklären, ich ging eben ins Bureau nachschauen, aber damals war ich noch nicht eigentlich enttäuscht und blätterte in der vorhandenen Post nicht erwartungsvoll sondern bloß in Gedanken. Meine Wohnungsadresse ist Niklasstraße 36. Wie ist aber bitte die Ihre? Ich habe auf der Rückseite Ihrer Briefe schon drei verschiedene Adressen gelesen, ist es also Nr. 29? Ist es Ihnen nicht lästig, eingeschriebene Briefe zu bekommen? Ich schicke sie nicht bloß aus Nervosität, wenn auch nebenbei aus diesem Grunde, aber ich habe das Gefühl, dass ein solcher Brief mehr geradewegs in Ihre Hand kommt, nicht in dem nachlässigen Pendeln solcher traurig wandernden einfachen Briefe und ich sehe dabei immer die ausgestreckte Hand eines strammen Berliner Briefträgers, der Ihnen den Brief nötigenfalls aufzwingen würde, selbst wenn Sie sich wehrten. Man kann nicht genug Mithelfer haben, wenn man abhängig ist. - Leben Sie wohl! Ich bin stolz, dass in diesem Brief keine Klage steht, so schön es auch ist, Ihnen zu klagen.

Ihr Franz K.


recitiert: Der jiddische Vortragsabend, von dem Kafka hier spricht, fand am 18. Februar 1912 im Festsaal des Jüdischen Rathauses in Prag statt. Vgl. auch Tagebücher (13. und 25. Februar 1912).

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at