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[An Felice Bauer]
[Prag, 31. Oktober 1912; Donnerstag]
[Briefkopf der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt]

31.X.12

Gnädiges Fräulein!
Sehn Sie doch, wie viele Unmöglichkeiten es in unserem Schreiben gibt. Kann ich einer Bitte, wie jener, dass Sie mir nur 5 Zeilen schreiben sollen, den Anschein widerlichen, unwahren Edelmutes nehmen? Das ist unmöglich. Und meine ich diese Bitte nicht aufrichtig? Sicherlich meine ich sie aufrichtig. Und meine ich sie nicht vielleicht auch unaufrichtig? Natürlich meine ich sie unaufrichtig, und wie unaufrichtig ich sie meine! Wenn ein Brief endlich da ist, nachdem die Türe meines Zimmers tausendmal aufgegangen ist, um statt des Dieners mit dem Brief eine Unzahl von Leuten einzulassen, die mit einem in dieser Hinsicht mich quälenden ruhigen Gesichtsausdruck sich hier am richtigen Platze fühlen, wo doch nur der Diener mit dem Brief und kein anderer ein Anrecht hat aufzutreten - wenn dann also dieser Brief da ist, dann glaube ich ein Weilchen lang, dass ich jetzt ruhig sein kann, dass ich mich an ihm sättigen werde und dass der Tag gut vorübergehen wird. Aber dann habe ich ihn gelesen, es ist mehr darin, als ich je erfahren zu können verlangen darf, Sie haben für den Brief Ihren Abend verwendet und es bleibt vielleicht kaum Zeit mehr zu dem Spaziergang durch die Leipziger Straße, ich lese den Brief einmal, lege ihn weg und lese ihn wieder, nehme einen Akt in die Hand und lese doch eigentlich nur Ihren Brief, stehe beim Schreibmaschinisten, dem ich diktieren soll, und wieder geht mir Ihr Brief langsam durch die Hand und ich habe ihn kaum hervorgezogen, Leute fragen mich um irgendetwas und ich weiß ganz genau, dass ich jetzt nicht an Ihren Brief denken sollte, aber es ist auch das einzige, was mir einfällt - aber nach alledem bin ich hungrig wie früher, unruhig wie früher und schon wieder fängt die Tür sich lustig zu bewegen an, wie wenn der Diener mit dem Brief schon wieder kommen sollte. Das ist die "kleine Freude", die mir Ihrem Ausdrucke nach Ihre Briefe machen. Damit beantwortet sich auch Ihre Frage, ob es mir nicht unangenehm ist, jeden Tag ins Burau einen Brief von Ihnen zu bekommen. Natürlich ist es eine fast unmögliche Sache, das Bekommen eines Briefes von Ihnen und die Bureauarbeit in irgendeine Verbindung zu bringen, aber ebenso unmöglich ist es, zu arbeiten und umsonst auf einen Brief zu warten oder zu arbeiten und nachzudenken, ob vielleicht zuhause ein Brief liegt. Unmöglichkeiten auf allen Seiten! Und doch ist es nicht so arg, denn mir sind in der letzten Zeit mit der Bureauarbeit auch andere Unmöglichkeiten gelungen, man darf sich vor den kleineren Unmöglichkeiten nicht hinwerfen, man bekäme ja dann die großen Unmöglichkeiten gar nicht zu Gesicht.
Heute darf ich mich übrigens gar nicht beklagen, denn Ihre beiden letzten Briefe sind nur durch einen Zwischenraum von zwei Stunden getrennt zu mir gekommen und ich habe die Unordentlichkeit der Post natürlich für den gestrigen Tag ebenso verflucht, wie ich sie für den heutigen Tag lobe.
Aber ich antworte gar nicht und frage kaum und alles nur deshalb, weil die Freude, Ihnen zu schreiben, ohne dass ich mir dessen gleich bewußt werde, alle Briefe an Sie gleich für das Endlose anlegt und da muß natürlich auf den ersten Bogen nichts Eigentliches gesagt werden. Aber warten Sie, morgen habe ich hoffentlich (ich hoffe für mich) genug Zeit, alle Fragen in einem Zuge zu beantworten und so viel Fragen zu stellen, dass mir wenigestens für den Augenblick das Herz leichter wird.
Heute sage ich nur noch, dass ich mir bei der Briefstelle, die von Ihrem Hut handelte, in die Zunge gebissen habe. Also schwarz war er unten? Wo hatte ich meine Augen? Und geringfügig war mir die Beobachtung durchaus nicht. Dann war er aber oben in der Gänze weiß und das kann mich beirrt haben, da ich meiner Länge wegen auf ihn hinuntersah. Auch beugten Sie den Kopf ein wenig, als Sie den Hut anzogen. Kurz es gibt Entschuldigungen wie immer, aber was ich nicht ganz genau wußte, hätte ich nicht schreiben dürfen.
Mit den herzlichsten Grüßen und einem Handkuß, wenn's erlaubt ist.

Ihr Franz K.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at