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[An Felice Bauer]
[Prag, 29. Oktober 1912; Dienstag]

29.X.12

Gnädiges Fräulein!
Jetzt kommt etwas sehr Wichtiges, wenn auch nur in großer Eile. (Es ist nicht mehr im Bureau geschrieben, denn meine Bureauarbeit revolutioniert gegen das Schreiben an Sie, so fremd ist mir diese Arbeit durch und durch und hat keine Ahnung von dem, was ich nötig habe.) Sie dürfen also nicht glauben, dass ich durch einen endlosen Brief wie den vorgestrigen, wegen dessen ich mir schon genug Vorwürfe gemacht habe, außer der Zeit des Lesens Ihnen auch noch die Zeit des Ausruhens nehmen und Sie zu großen und pünktlichen Antworten verpflichten will, ich müßte mich ja schämen, wenn ich zu Ihren anstrengenden Arbeitstagen als Plage Ihrer Abende hinzutreten sollte. Also das wollen meine Briefe nicht, das wollen sie ganz und gar nicht, aber schließlich ist das selbstverständlich und Sie werden es auch nicht anders aufgefaßt haben. Nur sollen Sie mir - und das ist das Wichtige - und das ist das Wichtige (so wichtig ist es, dass es mir in der Eile zur Litanei wird) - abends auch dann nicht länger schreiben, wenn Sie ohne Rücksicht auf meine Briefe selbständige Lust haben sollten zu schreiben. So schön ich es mir in Ihrem Bureau denke - sind Sie allein in einem Zimmer? - ich will nicht mehr das Gefühl haben, Sie dort bis spät in den Abend festgehalten zu haben. Fünf Zeilen, ja, das könnten Sie mir schon hie und da abends schreiben, wobei ich trotz aller Gegenwehr die rohe Bemerkung nicht unterdrücken kann, dass man 5 Zeilen öfters schreiben kann als lange Briefe. Der Anblick Ihrer Briefe in der Türe - sie kommen jetzt gegen Mittag - könnte mich alle Rücksicht gegen Sie vergessen lassen, aber das Lesen der Zeitangabe oder die Ahnung, dass ich Sie vielleicht um einen Spaziergang betrüge, ist auch wieder unerträglich. Habe ich denn dann das Recht, Ihnen von Pyramidon abzuraten, wenn ich an Ihren Kopfschmerzen mitschuld bin? Wann gehn Sie denn eigentlich spazieren? Zweimal in der Woche Turnen, dreimal der Professor - es muß der verlorene Brief sein, in dem Sie von ihm schrieben - was bleibt dann noch übrig an freier Zeit? Und Sonntag noch Handarbeiten, warum denn das? Kann das die Mutter freuen, wenn sie weiß, dass Sie Ihre Erholungszeit dazu verwenden müssen? Besonders da doch die Mutter nach Ihren Briefen Ihre beste und lustige Freundin scheint. - Wenn Sie mich doch über dies alles in fünf Zeilen beruhigen wollten, damit wir darüber nicht mehr schreiben und nachdenken müßten, sondern ohne Selbstvorwürfe und ruhig einander ansehn und anhören könnten, Sie nach Ihrer Güte und Einsicht, ich, so wie ich muß.

Ihr Franz K.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at