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[An Elsa Taussig. Prag, 28. Dezember 1908]


Gnädiges Fräulein,

erschrecken Sie nicht, ich will Sie nur, wie ich es übernommen habe, rechtzeitig daran erinnern (und möglichst spät, damit Sie nicht mehr daran vergessen), dass Sie heute abend mit Ihrer Schwester ins "Orient" gehen wollten.

    Schreibe ich mehr, ist es überflüssig und verringert gar noch die Bedeutung des Vorigen, aber ich habe immer noch leichter das Überflüssige getan als das fast Notwendige. Dieses fast Notwendige habe ich nämlich immer leiden lassen, gestehe ich. Ich kann es gestehn, weil es natürlich ist.

    Denn man ist so froh, dass man das ganz Notwendige fertig gebracht hat (dieses muß selbstverständlich immer gleich geschehn, wie könnten wir uns sonst am Leben erhalten für den Kinematographen - vergessen Sie nicht an heute abend - für Turnen und Tuschen, für allein Wohnen, für gute Äpfel, für Schlafen, wenn man schon ausgeschlafen ist, für Betrunkensein, für einiges Vergangene, für ein heißes Bad im Winter, wenn es schon dunkel ist und für wer weiß was noch), man ist dann so froh, meine ich, dass man, weil man eben so froh ist, das Überflüssige eben macht, aber gerade das fast Notwendige ausläßt.

    Ich führe das nur deshalb an, weil ich nach dem Abend in Ihrer Wohnung wußte, dass es für mich fast notwendig sei, Ihnen zu schreiben. Ich versäumte dies endgiltig, denn nach der letzten Kinematographenvorstellung - Sie müssen das auseinanderhalten - war jener Brief noch immer fast notwendig, doch war diese beiläufige Notwendigkeit schon etwas vergangen, aber natürlich nach einer andern, förmlich wertloseren Richtung, als es jene ist, in der das Überflüssige liegt.

    Als Sie mir aber letzthin sagten, ich solle Ihnen schreiben, um meine Schrift zu zeigen, gaben Sie mir gleich alle Voraussetzungen des Notwendigen und damit des Überflüssigen in die Hand.

    Und doch wäre jener fast notwendige Brief nicht schlecht gewesen. Sie müssen bedenken, dass das Notwendige immer, das Überflüssige meistens geschieht, das fast Notwendige wenigstens bei mir nur selten, wodurch es, allen Zusammenhanges beraubt, leicht kläglich will sagen unterhaltend werden kann.

    Es ist also schade um jenen Brief, denn es ist schade um Ihr Lachen über jenen Brief, womit ich aber - Sie glauben mir bestimmt - gar nichts gegen Ihr übriges Lachen sagen will, auch nicht z. B. gegen jenes, das Ihnen heute der "galante Gardist" bereiten wird oder gar der "durstige Gendarm".

Ihr Franz K.        
 



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


"Orient": Das 1907 im Café "Orient" etablierte Kino im Zentrum Prags.


der "durstige Gendarm": Eine Beschreibung dieses Films abgedruckt bei Hanns Zischler, "Maßlose Unterhaltung. Franz Kafka geht ins Kino", Freibeuter 16 (1983), S. 36f.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at