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Lieber Oskar!
Ich bin vielleicht froh, dass Du weggefahren bist, so froh wie die Menschen sein müßten, wenn jemand auf den Mond kletterte, um sie von dort aus anzusehen, denn dieses Bewußtsein, von einer solchen Höhe und Ferne aus betrachtet zu werden, gäbe den Menschen eine wenn auch winzige Sicherheit dafür, dass ihre Bewegungen und Worte und Wünsche nicht allzu komisch und sinnlos wären, solange man auf den Sternwarten kein Lachen vom Monde her hört.
Dein Brief ist halb traurig und halb froh. Du bist eben nicht zum Jungen gefahren, sondern zu den Feldern und zum Wald. Aber Du siehst sie, während wir zur Not ihr Frühjahr und ihren Sommer sehn, aber von ihrem Herbst und ihrem Winter wissen wir nur gerade so viel wie von Gott in uns.
Heute ist Sonntag, da kommen immer die Handelsangestellten den Wenzelsplatz hinunter über den Graben und schreien nach Sonntagsruhe. Ich glaube, ihre roten Nelken und ihre dummen und jüdischen Gesichter und ihr Schrein ist etwas sehr Sinnvolles, es ist fast so, wie wenn ein Kind zum Himmel wollte und heult und bellt, weil man ihm den Schemel nicht reichen will. Aber es will gar nicht zum Himmel. Die andern aber, die auf dem Graben gehn und dazu lächeln, weil sie selbst ihren Sonntag nicht zu nutzen verstehn, die möchte ich ohrfeigen, wenn ich dazu den Mut hätte und nicht selbst lächelte. Du aber auf Deinem "Schloß", darfst lachen, denn dort ist der Himmel der Erde nahe, wie Du schreibst.
Ich lese "Fechner, Eckehart". Manches Buch wirkt wie ein Schlüssel zu fremden Sälen des eigenen Schlosses.
Die Dinge, die ich Dir vorlesen wollte und die ich Dir schicken werde, sind Stücke aus einem Buch, "Das Kind und die Stadt", das ich selbst nur in Stücken habe. Will ich sie Dir schicken, so muß ich sie überschreiben, und das braucht Zeit. So werde ich Dir immer ein paar Blättchen mit jedem Briefe schicken (wenn ich nicht sähe, dass die Sache sichtbar vorwärts geht, verginge mir bald die Lust daran), Du magst sie dann im Zusammenhang lesen, das erste Stück kommt mit dem nächsten Brief.
Übrigens ist schon eine Zeit lang nichts geschrieben worden. Es geht mir damit so: Gott will nicht, dass ich schreibe, ich aber, ich muß. So ist es ein ewiges Auf und Ab, schließlich ist doch Gott der Stärkere und es ist mehr Unglück dabei, als Du Dir denken kannst. So viele Kräfte sind in mir an einen Pflock gebunden, aus dem vielleicht ein grüner Baum wird, während sie freigemacht mir und dem Staat nützlich sein könnten. Aber durch Klagen schüttelt man keine Mühlsteine vom Halse, besonders wenn man sie lieb hat.
Hier sind noch einige Verse. Lies sie in guten Stunden
Kühl und hart ist der heutige Tag. Die Wolken erstarren. Die Winde sind zerrende Taue. Die Menschen erstarren. Die Schritte klingen metallen Auf erzenen Steinen, Und die Augen schauen Weite weiße Seen.
In dem alten Städtchen stehn
Menschen, die über dunkle Brücken gehn, |
Dein Franz
8. Im Briefband "Briefe 1902 - 1924. - Frankfurt am Main, Mai 1983" ist der 9. November angegeben. Die Erwähnung des Wochentages läßt eher den 8. November 1903 vermuten.
Schloß: Schloß Ober-Studenec bei Zdirec. Dort hatte Oskar Pollak eine Hofmeisterstelle angenommen. - Aus diesem im Original zwölf Seiten umfassenden Brief, der unter anderem auch die ausführliche Kritik eines Prager Vortrags von Professor Schultze-Naumburg enthält, sind hier nur Teile publiziert. - Wie im vierten Brief an den gleichen Adressaten ist der Gegensatz Stadt-Land ein Hauptthema Kafkas. In einem andern Brief an Oskar Pollak schreibt Kafka:
"...während doch in Wahrheit wir die Halbverschütteten sind, Du aber gute Luft zum Atmen hast in diesem grünen Frühling. Darum ist es anmaßend und ein wenig sündhaft, Dir aus der Stadt zu schreiben, außer man rät Dir, weise wie die Städter für andere sind, Dich an die Landwirtschaft zu machen. Dagegen ist es klug und sorglich, sich vom Lande schreiben zu lassen. Das werde ich tun."
Fechner, Eckehart: Gustav Theodor Fechner und Meister Eckehart.
Letzte Änderung: 17.4.2009 | werner.haas@univie.ac.at |