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[An Oskar Pollak]
[Vermutlich Prag, 6. 9. 1903; Sonntag]

6. 9.

Es wäre vielleicht klug gewesen, wenn ich mit diesem Brief gewartet hätte, bis ich Dich sähe und wüßte, was die zwei Monate aus Dir gemacht haben, denn mich - glaube ich - bringen diese Monate im Sommer am meisten merklich von der Stelle. Und dann habe ich in diesem Sommer auch nicht ein Kärtchen von Dir bekommen, und dann habe ich auch das letzte halbe Jahr kein Wort mit dir gesprochen, das der Mühe wert gewesen wäre. Es ist also wohl möglich, dass ich den Brief da an einen Fremden schicke, der sich über Zudringlichkeit ärgert, oder an einen Toten, der ihn nicht lesen kann, oder an einen Klugen, der über ihn lacht. Aber ich muß den Brief schreiben, darum warte ich nicht erst, bis ich etwa sähe, dass ich den Brief nicht schreiben darf.
Denn ich will von Dir etwas, und will es nicht aus Freundschaft oder aus Vertrauen, wie man vielleicht denken könnte, nein, nur aus Eigennutz, nur aus Eigennutz.
Es ist möglich, dass Du merktest, dass ich in diesen Sommer mit blauen Hoffnungen ging, es ist möglich, dass Du auch von ferne merktest, was ich wollte von diesem Sommer, ich sage es: das, was ich in mir zu haben glaube (ich glaube es nicht immer), in einem Zug zu heben. Du konntest es nur von ferne merken und ich hätte Dir die Hände küssen müssen dafür, dass Du mit mir gingst, denn mir wäre es unheimlich gewesen, neben einem zu gehn, dessen Mund böse verkniffen ist. Aber er war nicht böse.
Die Lippen nun hat mir der Sommer ein wenig auseinandergezwängt - ich bin gesünder geworden - (heute ist mir nicht ganz wohl), ich bin stärker geworden, ich war viel unter Menschen, ich kann mit Frauen reden - es ist nötig, dass ich das alles hier sage -, aber von den Wunderdingen hat mir der Sommer nichts gebracht.
Jetzt aber reißt mir etwas die Lippen ganz auseinander, oder ist es sanft, nein, es reißt, und jemand, der hinter dem Baum steht, sagt mir leise: "Du wirst nichts tun ohne andere", ich aber schreibe jetzt mit Bedeutung und zierlichem Satzbau: "Einsiedelei ist widerlich, man lege seine Eier ehrlich vor aller Welt, die Sonne wird sie ausbrüten; man beiße lieber ins Leben statt in seine Zunge; man ehre den Maulwurf und seine Art, aber man mache ihn nicht zu seinem Heiligen." Da sagt mir jemand, der nicht mehr hinter dem Baume ist: "Ist das am Ende wahr und ein Wunderding des Sommers?"
(Hört nur, hört eine kluge Einleitung eines listigen Briefes. Warum ist sie klug? Ein Armer, der bisher nicht gebettelt hatte, schreibt einen Bettelbrief, in dessen breiter Einleitung er mit seufzenden Worten den so mühseligen Weg beschreibt, der zu der Erkenntnis führte, dass Nichtbetteln ein Laster sei.)
Du, verstehst Du das Gefühl, das man haben muß, wenn man allein eine gelbe Postkutsche voll schlafender Menschen durch eine weite Nacht ziehn muß? Man ist traurig, man hat ein paar Tränen im Augenwinkel, schleppt sich langsam von einem weißen Meilenstein zum andern, hat einen krummen Rücken und muß immer die Landstraße entlang schauen, auf der doch nichts ist als Nacht. Zum Kuckuck, wie wollte man die Kerle aufwecken in der Kutsche, wenn man ein Posthorn hätte.
Du, jetzt kannst Du mir zuhören, wenn Du nicht müde bist.
Ich werde Dir ein Bündel vorbereiten, in dem wird alles sein, was ich bis jetzt geschrieben habe, aus mir oder aus andern. Es wird nichts fehlen, als die Kindersachen (Du siehst, das Unglück sitzt mir von früh an auf dem Buckel), dann das, was ich nicht mehr habe, dann das, was ich auch für den Zusammenhang für wertlos halte, dann die Pläne, denn die sind Länder für den, der sie hat, und Sand für die andern, und endlich das, was ich auch Dir nicht zeigen kann, denn man schauert zusammen, wenn man ganz nackt dasteht und ein anderer einen betastet, auch wenn man darum auf den Knien gebeten hat. Übrigens, ich habe das letzte halbe Jahr fast gar nichts geschrieben. Das also, was übrig bleibt, ich weiß nicht, wieviel es ist, werde ich Dir geben, wenn Du mir ein Ja schreibst oder sagst auf dieses hin, was ich von Dir will.
Das ist nämlich etwas Besonderes, und wenn ich auch sehr ungeschickt im Schreiben solcher Dinge bin (sehr unwissend), vielleicht weißt Du es schon. Ich will von Dir keine Antwort darauf haben, ob es eine Freude wäre hier zu warten oder ob man leichten Herzens Scheiterhaufen anzünden könnte, ja ich will nicht einmal wissen, wie Du zu mir stehst, denn auch das müßte ich Dir abzwingen, also ich will etwas Leichteres und Schwereres, ich will, dass Du die Blätter liest, sei es auch gleichgültig und widerwillig. Denn es ist auch Gleichgültiges und Widerwilliges darunter. Denn - darum will ich es - mein Liebstes und Härtestes ist nur kühl, trotz der Sonne, und ich weiß, dass zwei fremde Augen alles wärmer und regsamer machen werden, wenn sie darauf schauen. Ich schreibe nur wärmer und regsamer, denn das ist gottsicher, da geschrieben steht: "Herrlich ist selbständig Gefühl, aber antwortend Gefühl macht wirkender."
Nun warum soviel Aufhebens, nicht - ich nehme ein Stück (denn ich kann mehr, als ich dir gebe, und ich werde - ja) ein Stück von meinem Herzen, packe es sauber ein in ein paar Bogen beschriebenen Papiers und gebe es Dir.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at