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[An Oskar Pollak]
[1903]

Lieber Oskar!
... Kühle Morgennachschrift zu einer schmerzlichen Abendverrücktheit. Ich sehe nichts Unnatürliches darin, dass Du dem Weib nicht geholfen hast, das hätten vielleicht unverfälschte Menschen auch nicht getan. Aber unnatürlich ist, dass Du das durchgrübelst und Dich noch an diesem Durchgrübeln und an diesem Gegensatz freust, Dich noch an Deinem Zerhacken freust. So spießt Du Dich an jedem kurzen Gefühlchen für lange Zeit auf, so dass man endlich nur eine Stunde lebt, da man noch hundert Jahre über die Stunde nachdenken muß. Freilich, vielleicht leb ich dann überhaupt nicht. Irgendwo hab ich einmal die Frechheit aufgeschrieben, dass ich rasch lebe, mit diesem Beweis: "Ich sehe einem Mädchen in die Augen und es war eine sehr lange Liebesgeschichte mit Donner und Küssen und Blitz", dann war ich eitel genug, aufzuschreiben: "Ich lebe rasch". So wie eine Kind mit Bilderbüchern hinter einem verhängten Fenster. Manchmal erhascht es etwas von der Gasse durch eine Ritze und schon ist es wieder in seinen kostbaren Bilderbüchern. - Bei Vergleichen bin ich gnädig gegen mich.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at