They
did it but we wished for it
Aber es geht auch anspruchsvoller: Mit '"Anthrax"
- Bioterror als Phantasma' hat der Historiker Philipp Sarasin einen Text
vorgelegt, der mit feiner Feder und gekonnter Sprachanalyse bestimmte
Verläufe des öffentlichen Diskurses und kollektiven Empfindens
nach dem 11. September nachzeichnet. Allerdings werfen ihn dabei die Fliehkräfte
des linguistic turn etwas aus der Bahn der Realität, und er gelangt
zu Schlüssen und Thesen, die mal seltsam, mal problematisch und mal
absurd sind, im Endeffekt aber dann auf die eine Kernthese zusammenschmelzen:
dass der Krieg im Irak nichts als Unrecht war. Am offensichtlichsten, als über den an Senator Daschle adressierten Anthrax-Brief spricht. Darin heißt es, zitiert Sarasin: "You die now. Are you afraid?" Der Teil des Schreibens, den Sarasin weglässt, den man aber lesen kann, weil er auf der gleichen Seite ein Faksimile abdruckt, lautet: "Death to America. Death to Israel. Allah is great." Vordergründig bleibt es ein Geheimnis des Autors, warum er diese Passage von seiner Analyse ausspart, warum er die Tatsache, dass die Anschläge von 9/11 und die darauf zumindest rekurrierenden Briefe auch antisemitisch konnotiert sind, schlicht ignoriert. Warum er beim ideologischen Profil von Selbstmordattentätern zwar eine Differenzierung zwischen Sunniten und Schiiten einfordert und Vorläufer der 'Märtyrer' in der deutschen Romantik und in Nietzsche sieht, nicht aber ihr deklariertes Ziel, alle Juden ins Meer zu werfen und Israel zu vernichten. Erst bei weiterer Lektüre wird klar, weshalb Sarasin diesen Konnex 'übersieht', Antisemitismus dient ihm nämlich für eine gänzlich andere Argumentation: Die seit dem Mittelalter verbreitete Legende, Juden würden Brunnen verseuchen und Gift streuen, um Andersgläubige zu töten, verbunden mit ihrer Wahrnehmung als 'Fremdkörper' im Volke, diese Konstruktionen haben "eigentlich" seit jeher die Araber gemeint, die Verschwörung sei als "von Babylon" ausgegangen wahrgenommen worden. Und dieses Ressentiment werde nun bei der Terroristenjagd, nicht zuletzt durch die Kraft der Bio-Chiffre "Anthrax", mobilisiert. Also: Opfer des antisemitischen Mobilisierungspotenzials sind bis heute nicht etwa die Juden, sondern die Araber, die militärische Befreiung Bagdads von Saddam Hussein, der Raketen auf Israel gerichtet hat, ist eine späte, gewissermaßen 'antisemitische' Rache am nur 80 km entfernten Babylon. Wenn die Verhältnisse dergestalt auf den Kopf gestellt werden, kommt folgendes dabei heraus: Bei der Motivforschung zu 9/11 gehe es darum, "zu verstehen, welche Diskurse und welche Kontexte" gewirkt haben, unter welchen "diskursiven und politischen Bedingungen" dann die Anthrax-Briefe entstanden sind. Hierzu konsultiert der Autor einige Themenkomplexe, 'Death to Israel' ist keiner davon. Und damit kommt Sarasin bei der antiamerikanischen Mainstream-Journaille
an: Nicht nur war der Krieg gegen Saddam Hussein mangels auffindbarer
Massenvernichtungswaffen ungerechtfertigt, George W. Bush ist selbst um
nichts besser, seine Administration wende "die üblichen Saddam-Tricks"
an. Die Behandlung der Gefangenen in Guantánamo sei natürlich
unhaltbar, gleichzeitig haben sich die USA aber mehr als verdächtig
gemacht, indem sie die späteren Attentäter vom 11. September
in ihrer Bewegungsfreiheit nicht eingeschränkt haben und auch noch
Flugzeuge besteigen ließen. So schnell kann also die Wahrung minimaler
Freiheiten in einem Rechtstaat zum Teil einer Verschwörung werden:
Hatte man ein Interesse an den Anschlägen? Um den War on terror führen,
um die eigene Gesellschaft disziplinieren zu können? Die damit suggerierte
Möglichkeit, Disziplinierung mittels Phantasma könnte Bush durchaus
2600 tote ZivilistInnen wert gewesen sein, wird von Sarasin mit Foucaults
Panopticon verknüpft; und für die spektakuläre Erkenntnis,
dass die USA auch geostrategische Absichten haben und an Rohstoffen interessiert
sind, wird Derrida bemüht, dem das Verdienst gebühre, da ganz
genau hingehört zu haben. Philipp Sarasin: "Anthrax" - Bioterror als Phantasma.
edition suhrkamp, Frakfurt am Main 2004. |