Lehre

They did it
but we wished for it


Mehr oder weniger verschwörungstheoretische Werke zu den Terroranschlägen am 11. September 2001, mehr oder weniger oberflächliche publizistische Absagen und Abgesänge auf die Weltmacht USA überfüllen die Auslagen der Buchhandlungen, denn solcherlei verkauft sich gut: Wer behauptet, Amerika sei vor allem an allem schuld, Land der Dummen und Heimat der Bösen, kann sich nicht nur der Zustimmung des Mainstraems sicher sein, sondern auch noch gute Geschäfte machen. Oder Kinosäle füllen, wie der unsägliche Michael Moore, der mit seiner Mischung aus dumpfer Propaganda, suggestiver Bildtechnik und populistischer Mobilisierung der Ideologie des kleinen rechtschaffenen Mannes offensichtlich auch den Nerv europäischer Filmjurys zu treffen weiß. Die Verklärung bewaffneter Mörderbanden im Irak zu den Fähnchenhaltern des 'Widerstands' gegen die USA ist folgerichtig nicht mehr nur Sache marginalisierter 'antiimperialistischer' Antisemiten-Vereine, sondern findet auch Eingang in die Kolumnen etwa von Naomi Klein, zum Logo geworden durch die scharfsinnige Beobachtung, dass Kapitalismus zwar gut, aber Nike böse ist: Sie sähe, schreibt sie, Al Sadr und seine Leute gerne in New York.

Aber es geht auch anspruchsvoller: Mit '"Anthrax" - Bioterror als Phantasma' hat der Historiker Philipp Sarasin einen Text vorgelegt, der mit feiner Feder und gekonnter Sprachanalyse bestimmte Verläufe des öffentlichen Diskurses und kollektiven Empfindens nach dem 11. September nachzeichnet. Allerdings werfen ihn dabei die Fliehkräfte des linguistic turn etwas aus der Bahn der Realität, und er gelangt zu Schlüssen und Thesen, die mal seltsam, mal problematisch und mal absurd sind, im Endeffekt aber dann auf die eine Kernthese zusammenschmelzen: dass der Krieg im Irak nichts als Unrecht war.
"Darauf muß man erst kommen" - um diesen Satz ist der Essay konstruiert: Nachdem zwei Verkehrsflugzeuge in die Türme des World Trade Center in New York gerast sind, werden in den USA Maßnahmen gegen Attacken mit biologischen Kampfstoffen ergriffen; nicht nur die Kulturindustrie hatte das Bild von in Hochhäuser krachenden Maschinen längst vorweggenommen, auch die Koppelung einer solchen 'Verwundung' mit biologistischen Metaphern war bereits diskursiv vorbereitet, was es einerseits möglich machte, die Reihe von Anthrax-Briefen, die folgte, in einen logischen Zusammenhang mit den Anschlägen zu bringen, und andererseits die die USA bedrohenden Terroristen mit Krankheiten, Bakterien und Parasiten gleichzusetzen. So weit, so schlüssig, so interessant. Aber Sarasin will ja nicht nur protokollieren, sondern auch eine Aussage treffen, und damit die funktioniert, muss er an bestimmten Umständen schon selbst Hand anlegen.

Am offensichtlichsten, als über den an Senator Daschle adressierten Anthrax-Brief spricht. Darin heißt es, zitiert Sarasin: "You die now. Are you afraid?" Der Teil des Schreibens, den Sarasin weglässt, den man aber lesen kann, weil er auf der gleichen Seite ein Faksimile abdruckt, lautet: "Death to America. Death to Israel. Allah is great." Vordergründig bleibt es ein Geheimnis des Autors, warum er diese Passage von seiner Analyse ausspart, warum er die Tatsache, dass die Anschläge von 9/11 und die darauf zumindest rekurrierenden Briefe auch antisemitisch konnotiert sind, schlicht ignoriert. Warum er beim ideologischen Profil von Selbstmordattentätern zwar eine Differenzierung zwischen Sunniten und Schiiten einfordert und Vorläufer der 'Märtyrer' in der deutschen Romantik und in Nietzsche sieht, nicht aber ihr deklariertes Ziel, alle Juden ins Meer zu werfen und Israel zu vernichten. Erst bei weiterer Lektüre wird klar, weshalb Sarasin diesen Konnex 'übersieht', Antisemitismus dient ihm nämlich für eine gänzlich andere Argumentation: Die seit dem Mittelalter verbreitete Legende, Juden würden Brunnen verseuchen und Gift streuen, um Andersgläubige zu töten, verbunden mit ihrer Wahrnehmung als 'Fremdkörper' im Volke, diese Konstruktionen haben "eigentlich" seit jeher die Araber gemeint, die Verschwörung sei als "von Babylon" ausgegangen wahrgenommen worden. Und dieses Ressentiment werde nun bei der Terroristenjagd, nicht zuletzt durch die Kraft der Bio-Chiffre "Anthrax", mobilisiert. Also: Opfer des antisemitischen Mobilisierungspotenzials sind bis heute nicht etwa die Juden, sondern die Araber, die militärische Befreiung Bagdads von Saddam Hussein, der Raketen auf Israel gerichtet hat, ist eine späte, gewissermaßen 'antisemitische' Rache am nur 80 km entfernten Babylon. Wenn die Verhältnisse dergestalt auf den Kopf gestellt werden, kommt folgendes dabei heraus: Bei der Motivforschung zu 9/11 gehe es darum, "zu verstehen, welche Diskurse und welche Kontexte" gewirkt haben, unter welchen "diskursiven und politischen Bedingungen" dann die Anthrax-Briefe entstanden sind. Hierzu konsultiert der Autor einige Themenkomplexe, 'Death to Israel' ist keiner davon.

Und damit kommt Sarasin bei der antiamerikanischen Mainstream-Journaille an: Nicht nur war der Krieg gegen Saddam Hussein mangels auffindbarer Massenvernichtungswaffen ungerechtfertigt, George W. Bush ist selbst um nichts besser, seine Administration wende "die üblichen Saddam-Tricks" an. Die Behandlung der Gefangenen in Guantánamo sei natürlich unhaltbar, gleichzeitig haben sich die USA aber mehr als verdächtig gemacht, indem sie die späteren Attentäter vom 11. September in ihrer Bewegungsfreiheit nicht eingeschränkt haben und auch noch Flugzeuge besteigen ließen. So schnell kann also die Wahrung minimaler Freiheiten in einem Rechtstaat zum Teil einer Verschwörung werden: Hatte man ein Interesse an den Anschlägen? Um den War on terror führen, um die eigene Gesellschaft disziplinieren zu können? Die damit suggerierte Möglichkeit, Disziplinierung mittels Phantasma könnte Bush durchaus 2600 tote ZivilistInnen wert gewesen sein, wird von Sarasin mit Foucaults Panopticon verknüpft; und für die spektakuläre Erkenntnis, dass die USA auch geostrategische Absichten haben und an Rohstoffen interessiert sind, wird Derrida bemüht, dem das Verdienst gebühre, da ganz genau hingehört zu haben.
Oder haben wir alle uns die Anschläge gar selbst gewünscht? Geht es gar nicht um islamistischen Terror, sondern sind hier die Kräfte an der "Rückseite eines Systems westlicher - amerikanischer - Dominanz" freigeworden? Die Kräfte unserer eigenen Phantasie, unseres eigenen Todestriebs? Haben "die Türme in diesem Sinne 'Selbstmord' begangen"? Solche Fragen werden in dem Text ernsthaft verhandelt, und DARAUF muss man erst mal kommen.

Philipp Sarasin: "Anthrax" - Bioterror als Phantasma. edition suhrkamp, Frakfurt am Main 2004.