Einige Modellsysteme zeichnen sich dadurch aus, daß ihre Energie als Summe
der Quadrate ihrer mikroskopischen Variablen geschrieben werden kann. Das
beliebteste Beispiel ist das klassische ideale Gas, mit
. Die Forderung bzw.
beschreibt dann eine hochdimensionale Kugel oder Kugelschale.
Es lohnt sich daher,
die geometrischen Eigenschaften solcher Körper genauer zu
betrachten.
Allerdings beschäftigen wir uns nur aus Gründen der
mathematischen Einfachheit
mit -Kugeln. Diejenigen Eigenschaften des hochdimensionalen Phasenraums,
die in der Statistischen Mechanik benötigt werden, lassen sich
mutatis mutandis auch für anders geformte Energieflächen herleiten
(z. B. für den -Rhombus, der der Bedingung
für wechselwirkungsfreie Spinsysteme entspricht).
VOLUMEN UND OBERFLÄCHE HOCHDIMENSIONALER KUGELN Für die folgende Diskussion ist es vorteilhaft, neben dem
Kugelradius eine
Variable zu verwenden, die dem Quadrat des Radius entspricht.
Im Zustandsraum von wechselwirkungsfreien Vielteilchensystemen
entspricht nämlich einer Energie
(siehe Gl. 3.7, 3.8 und Tabelle 3.1);
gerade diese ist aber bei einem isolierten System vorgegeben.
Im folgenden setzen wir daher
.
Achtung:
Bei der folgenden Diskussion sollte man sich daran erinnern, daß
in den physikalischen Anwendungen das Quadrat des Kugelradius
jeweils der Gesamtenergie des betreffenden Systems entspricht.
Die Energie ist aber eine extensive Größe, d. h. sie wird
mit zunehmender Anzahl der Freiheitsgrade zunehmen:
.
VOLUMEN
Das Volumen einer n-dimensionalen Kugel vom Radius
ist
(3.9)
wo
und
.
Nützlich ist folgende Rekursionsformel:
(3.10)
BEISPIELE:
Für große gilt, bei Verwendung der Stirling-Näherung für
,
(3.11)
Sobald die Stirling-Näherung gilt, also für , läßt sich das
Kugelvolumen so schreiben:
(3.12)
Für sehr hohe () erhalten wir für den Logarithmus des
Volumens (die Formel für das Volumen selbst ist wegen der hohen Exponenten
dann schon schwer zu handhaben) den Ausdruck
(3.13)
BEISPIEL:
Sei und . Dann gilt für das Volumen:
OBERFLÄCHE
Für die Oberfläche einer n-dimensionalen Kugel gilt
(3.14)
BEISPIELE:
Nützlich ist auch die folgende Darstellung der Oberfläche:
(3.15)
mit
. Daraus ergibt sich
nämlich, daß die ,,Masse`` einer Kugelschale längs
einer Achse () gemäß der folgenden Dichtefunktion verteilt ist:
ANWENDUNG:
Wir nehmen an, daß in einem System Freiheitsgrade der translatorischen
Bewegung vorhanden seien. (Beispiel: Teilchen, die sich in einer
Dimension bewegen können, oder Teilchen in Dimensionen). Die
Quadratsumme aller Geschwindigkeiten (Energie!)
sei vorgegeben, ansonsten sei jede mögliche Kombination der Werte von
gleich wahrscheinlich. Dann liegen alle
,,Phasenraumpunkte``
gleichmäßig
auf der Kugeloberfläche
, und die
Einzelgeschwindigkeit
tritt mit der Wahrscheinlichkeitsdichte 3.16 auf.
Mit zunehmender Dimensionalität zeigt diese Dichtefunktion ein
zunächst
rasch wechselndes Verhalten (siehe Abb. 3.2). Teilen
sich nur zwei
Teilchen eine Gesamtenergie , dann ist die Geschwindigkeit eines
der beiden Teilchen wahrscheinlich in der Nähe des möglichen Maximalbetrags,
während das andere Teilchen eine geringe Geschwindigkeit aufweist.
Im Gegensatz dazu liegt für höhere Dimensionen (= Teilchenzahlen)
das Maximum der Wahrscheinlichkeitsdichte
eher um Null. Bei
(also 3 Teilchen in einer Dimension, oder 1 Teilchen in 3 Dimensionen)
sind alle möglichen Werte von gleich wahrscheinlich.
Annäherung an die Maxwell-Boltzmann-Verteilung: Für sehr
große gilt
(3.17)
wo
. Die
Maxwell-Boltzmann-Verteilung
kann somit allein aus dem Postulat gleicher a priori-Wahrscheinlichkeit
und den geometrischen Eigenschaften hochdimensionaler Kugeln hergeleitet
werden.
Abbildung:
Masseverteilung einer -dimensionalen
Kugeloberfläche
längs einer Achse. Mit zunehmender Dimension konzentriert sich die Masse
immer mehr um den Achsenmittelpunkt. Interpretiert man die Kugelfläche als
Menge aller Phasenraumpunkte
mit gegebener Gesamtenergie
, dann ist
die Verteilungsdichte für die
einzelne Geschwindigkeitskomponente .
Simulation:
bis harte Scheiben in einem 2D Käfig mit
reflektierenden Wänden.
Darstellung der Winkelverteilung und der
Verteilung einer Geschwindigkeitskomponente, .
Demonstration der Verteilung nach Abbildung 3.2.
[Code: Harddisks]
Simulation: Eine harte Kugel in einem Käfig mit
reflektierenden Wänden.
Darstellung der Verteilung einer
Geschwindigkeitskomponente.
Demonstration
des Sonderfalles (d.h.
) nach Abbildung
3.2.
[Code: Hspheres]
Simulation:
LJ-Teilchen in 2D-Box mit periodischen
Randbedingungen.
Darstellung von .
[Code: LJones]
ZWEI SELTSAME EIGENSCHAFTEN VON HYPERKUGELN Wir haben erfahren, daß Kugeln in hochdimensionalen Räumen ungewohnte
geometrische Eigenschaften aufweisen. Für die Statistische Physik sind
die folgenden Befunde von größter Bedeutung:
Praktisch das gesamte
Volumen einer Hyperkugel befindet sich in einer dünnen Schale unmittelbar
unterhalb der Oberfläche
Das Volumen einer Hyperkugel ist - zumindest
auf einer logarithmischen Skala - fast identisch mit dem Volumen des
größten eingeschriebenen Hyper-Zylinders
VOLUMEN EINER KUGELSCHALE
Das Verhältnis zwischen dem Volumen
einer
dünnen ,,Haut`` nahe der Kugeloberfläche und dem
Gesamtvolumen der
Kugel ist
(3.18)
oder, in den Größen und :
(3.19)
Für
geht dieses Verhältnis gegen , und zwar
unabhängig davon, wie dünn die Schale ist!
Bei sehr hohen Dimensionen ist das gesamte Volumen einer Kugel
unmittelbar unter der Oberfläche konzentriert:
(3.20)
BEISPIEL: ,
HYPERKUGELN UND HYPERZYLINDER
Das Kugelvolumen läßt sich auch folgendermaßen schreiben:
(3.21)
wobei
.
BEISPIEL:
(3.22)
Teilt man nun den Integrationsbereich in 3.21
in kleine Intervalle der Größe , dann kann man
näherungsweise schreiben
(3.23)
mit
.
Ebenso gilt für das Volumen der Kugelschale:
(3.24)
Nach Gleichung 3.20 kann man aber - für hohe Dimensionen
, und - anstelle von immer auch
schreiben. Daher gilt in solchen Fällen
(3.25)
Die Summanden in den Gleichungen 3.24 und 3.25 variieren
sehr stark. Für hohe Dimensionen dominiert jeweils ein einziger Term in der
Summe; alle übrigen Terme können im Vergleich zu ihm vernachlässigt werden.
Dieser Term ist durch die Bedingung
(3.26)
zu identifizieren. Aus
(3.27)
folgt für das Argument , das den Integranden in 3.21
bzw. den Summanden in 3.24 und 3.25 zum Maximum macht,
(3.28)
Wir haben
somit eine bemerkenswerte Eigenschaft hochdimensionaler Kugeln
gefunden, die sich
in folgender Rechenvorschrift zusammenfassen läßt:
Teile die gegebene Dimension in und , sodaß
auch ;
suche das Maximum des Produkts
(oder das Maximum des Logarithmus ) bezüglich ; dieses
Maximum liegt bei
(3.29)
Dann gilt
(3.30)
Ebenso gilt
(3.31)
(Anmerkung: bei numerischen Überprüfungen dieser Relationen
ist zu beachten, daß
das Maximum der Funktion auf der rechten Seite von 3.31
bzw. 3.30
sehr scharf ist; man kann es daher leicht übersehen, wenn man
das Intervall
in regelmäßigen Schritten durchmustert. Man muß
daher immer
zuerst die Lage des Maximums bestimmen und kann dann in
kleinen Schritten zu
größeren oder kleineren gehen.)
Die anschauliche Deutung der Relation 3.30 ist verblüffend:
auf einer logarithmischen Skala ist das Volumen der -Kugel
gleich dem Produkt der Volumina zweier Kugeln in den Unterräumen
bzw. . Dieses Produkt kann man aber als das Volumen eines
in die -Kugel eingeschriebenen Hyperzylinders mit ,,Grundfläche``
im -Raum und ,,Höhe`` im Raum auffassen.
BEISPIEL:
, , : das Maximum der Größe
liegt bei
, und wir finden
Simulation: Hyperkugeln und -zylinder.
In eine gegebene Hyperkugel der Dimension
werden Hyperzylinder eingeschrieben, deren
,,Grundflächen`` und ,,Höhen`` jeweils
bzw. Dimensionen aufweisen.
Der Hyperzylinder mit dem größten Volumen wird
identifiziert; sein logarithmisches Volumen ist
fast gleich dem der umschriebenen Kugel.
[Code: Entropy1]
DISKRETISIERUNG DES PHASENRAUMES; ENTROPIE Je nach dem betrachteten Modellsystem sind die Mikrovariablen entweder
kontinuierlich (klassisches Vielteilchensystem) oder diskret
(quantenmechanische Systeme, Spingitter). Für das ,,
Abzählen`` von Zuständen
im Phasenraum ist die Einführung eines Rasters auch im
kontinuierlichen Fall
von Vorteil. Wir denken uns dazu den Phasenraum eines
-Teilchen-Systems in
Zellen mit der Abmessung
Betrachten wir nun den Fall des klassischen Gases (Fluids) mit Teilchenzahl
und Volumen . Im -dimensionalen
Geschwindigkeits-Unterraum des -dimensionalen Phasenraums
definiert die Bedingung
eine Kugelschale, deren Volumen im wesentlichen wieder gleich ist dem
Volumen der eingeschlossenen Kugel. Die Anzahl der -Zellen
in (bzw. unterhalb) dieser Schale ist gegeben durch
(3.34)
Im Fall des idealen Gases kann man den Beitrag des Orts-Unterraumes
berücksichtigen, indem man schreibt
(3.35)
Damit wird die Gesamtzahl der Zellen im -Raum
(3.36)
Hier müssen wir einen Vorgriff auf die Quantenstatistik machen. Eine der
Eigenschaften quantenmechanischer Objekte ist ja ihre Ununterscheidbarkeit.
Es ist einzusehen, daß die Anzahl der voneinander verschiedenen
Mikrozustände bei Berücksichtigung dieser Quanteneigenschaft anders
lauten wird als dann, wenn wir die Teilchen als unterscheidbar
betrachten. Eine genaue Analyse, die hier noch nicht
durchgeführt werden kann, führt zu dem
simplen Ergebnis, daß die Größe
noch durch
zu dividieren ist. Die resultierende Größe
(3.37)
ist dann tatsächlich proportional zur Gesamtzahl der physikalisch
voneinander verschiedenen Mikrozustände.
Diese Rechenvorschrift wird als Regel zur korrekten Boltzmann-Abzählung
bezeichnet.
Es ist bezeichnend für das physikalische ,,Gespür`` von J. W. Gibbs, daß
er genau diese Regel zur richtigen Berechnung von fand,
obwohl ihm die Quantenmechanik noch nicht bekannt war. Er schlug die
-Regel ad hoc vor, um eine gewisse theoretische Schwierigkeit - das
Gibbssche Paradoxon - zu beheben.
Die Größe ist ein Maß für das
verfügbare Phasenraumvolumen, gemessen in Einheiten .
Der Logarithmus dieser Größe ist von besonderer
physikalischer Bedeutung: er ist - bis auf einen Vorfaktor - identisch
mit dem in der Thermodynamik definierten
Entropiemaß .
Zunächst ist diese Gleichsetzung noch eine Hypothese;
wie sinnvoll die Identifizierung
(3.38)
ist, wird sich im
folgenden Kapitel herausstellen.
Im Fall des klassischen idealen Gases erhalten wir
(mit
, und unter Vernachlässigung von
in Gl. 3.36)
(3.39)
Diese Formel ist als Sackur-Tetrode-Gleichung bekannt.
Der Zahlenwert von , und damit auch von , ist zunächst
noch von der Wahl der Rastergröße abhängig.
Diese beunruhigende Tatsache kann durch folgende Bemerkungen entschärft
werden:
Wenn es nur um den Vergleich von
Phasenraumvolumina geht,
also z.B. um die Abzählung von Zellen in verschiedenen Energieschalen
(oder in verschiedenen Teilen einer Energieschale),
dann kommt es auf die Rastergröße nicht an.
Es gibt eine kleinste physikalisch sinnvolle Rastergröße,
die durch die quantenmechanische
Unschärfe gegeben ist: , mit der Planckschen Konstanten
.
BEISPIEL:
, , . Die mittlere Energie pro Teilchen sei also ,
das mittlere Geschwindigkeitsquadrat ist somit
.
Der Käfig sei kubisch, mit . Wir wählen
einen groben Raster mit
. Damit wird
(3.40)
Aus Neugier bestimmen wir auch
, wo das
Phasenraumvolumen zwischen und ist:
(3.41)
und daher
(3.42)
Der Zahlenwert der Entropie ist also schon bei einem so kleinen System
unempfindlich gegenüber dem Austausch von Kugel- und Kugelschalen-Volumen!
F. J. Vesely / StatPhys Tutorial, Deutsch, 2001-2003