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An Elli Hermann
. . . Ich habe für mich (unter vielen andern) einen
großen Zeugen, den ich hier aber nur zitiere, eben weil er groß
ist, und dann, weil ich es gestern gerade gelesen habe, nicht weil ich
die gleiche Meinung zu haben wagte. In der Beschreibung zu Gullivers Reise
in Liliput (dessen Einrichtungen sehr gelobt werden) sagt Swift: "Die
Begriffe von den gegenseitigen Pflichten der Eltern und Kinder sind gänzlich
von den unsrigen verschieden. Da nämlich die Verbindung der Männer
und Weiber, wie bei allen Tiergeschlechtern, auf Naturgesetzen beruht,
behaupten sie durchaus, dass Männer und Frauen nur deshalb sich
vereinigen; die Zärtlichkeit gegen die Jungen folge aus demselben
Grundsatz; deshalb wollen sie nicht zugestehn, ein Kind sei für sein
Dasein den Eltern verpflichtet, welches ohnedies wegen des menschlichen
Elends keine Wohltat sei; auch bezweckten die Eltern keine Wohltat, sondern
dächten an ganz andere Dinge bei ihren verliebten Zusammenkünften.
Wegen dieser und anderer Schlußfolgen sind sie der Meinung, Eltern
dürfe man am wenigsten unter allen Menschen die Erziehung der Kinder
anvertrauen." Er meint damit offenbar, ganz entsprechend Deiner Unterscheidung
zwischen "Mensch" und "Sohn", dass das Kind,
wenn es Mensch werden soll, möglichst bald, wie er sich ausdrückt,
der Tierheit, dem bloß tierischen Zusammenhang entzogen werden muß.
Du gibst selbst zu, dass bei Deinem Zögern Eigennutz mitwirkt.
Ist aber dieser Eigennutz nicht sogar als Eigennutz etwas verkehrt? Wenn
Du z. B. die Wintersachen über den Sommer nicht zum Kürschner
geben willst, weil Deinem Gefühl nach die Sachen, wenn Du sie im Herbst
zurückbekommst, Dir innerlich fremd wären, und wenn Du daher
die Sachen selbst aufbewahrst, so werden sie Dir allerdings im Herbst vollständig,
innerlich und äußerlich gehören, werden aber von Motten
zerfressen sein. (Das ist keine Bosheit, wirklich nicht, nur ein Beispiel,
ein naheliegendes.) . . .
So sehe ich also Deine Bedenken, vollständig könnte ich überhaupt
nur ein Gegenargument anerkennen, das Du aber nicht erwähnst. Vielleicht
denkst Du es aber. Es ist dieses: Wie kann mein Rat hinsichtlich der Erziehung
von Kindern anderer etwas wert sein, wenn ich nicht einmal imstande war,
mir einen Rat dafür zu geben, wie man eigene Kinder bekommt. - Dieses
Argument ist unwiderleglich und trifft mich vollständig, aber so ausgezeichnet
es auch ist, so glaube ich doch, dass es mehr mich trifft, als diesen
meinen Rat. Laß es meinen Rat nicht entgelten, dass er von mir
kommt.
. . .: Die Originalbriefe an die Schwester sind
anscheinend während der deutschen Besetzung verlorengegangen, daher
kann ich die Lücken in den seinerzeit genommenen Abschriften heute
nicht mehr ausfüllen
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at