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An Elli Hermann
. . . Nicht das, was Du hervorhebst (Kinder müssen für ihr Dasein
den Eltern nicht dankbar sein), ist die Hauptsache bei Swift. In dieser
Knappheit behauptet das ja im Grunde auch niemand. Das Hauptgewicht liegt
auf dem Schlußsatz: "Eltern darf man am wenigsten unter allen
Menschen die Erziehung der Kinder anvertrauen." Allerdings ist das,
wie auch die zu diesem Satz führende Beweisführung, viel zu gedrängt
gesagt und ich werde es Dir deshalb ausführlicher zu erklären
suchen, doch wiederhole ich, dass das alles nur Swifts Meinung ist
(der übrigens Familienvater war), meine Meinung geht zwar auch in
der Richtung, nur wage ich nicht, so entschieden zu sein.
Swift meint also:
Jede typische Familie stellt zunächst nur einen tierischen Zusammenhang
dar, gewissermaßen einen einzigen Organismus, einen einzigen Blutkreislauf.
Sie kann daher, auf sich allein angewiesen, nicht über sich hinaus,
sie kann aus sich allein keinen neuen Menschen schaffen, versucht sie es
durch Familienerziehung, ist es eine Art geistiger Blutschande.
Die Familie ist also ein Organismus, aber ein äußerst komplizierter
und unausgeglichener, wie jeder Organismus strebt auch sie fortwährend
nach Ausgleichung. Soweit dieses Streben nach Ausgleichung zwischen Eltern
und Kindern vor sich geht (die Ausgleichung zwischen den Eltern gehört
nicht hierher), wird sie Erziehung genannt. Warum das so genannt wird,
ist unverständlich, denn von wirklicher Erziehung, also dem ruhigen,
uneigennützig liebenden Entfalten der Fähigkeiten eines werdenden
Menschen oder auch nur dem ruhigen Dulden einer selbständigen Entfaltung
ist hier keine Spur. Vielmehr ist es eben nur der meist unter Krämpfen
vorsichgehende Versuch der Ausgleichung eines zumindest während vieler
Jahre zur schärfsten Unausgeglichenheit verurteilten tierischen Organismus,
den man zum Unterschied vom einzelnen Menschentier das Familientier nennen
kann.
Der Grund der unbedingten Unmöglichkeit einer sofortigen gerechten
Ausgleichung (und nur eine gerechte Ausgleichung ist wirkliche Ausgleichung,
nur sie hat Bestand) innerhalb dieses Familientieres ist die Unebenbürtigkeit
seiner Teile, nämlich die ungeheuerliche Übermacht des Elternpaares
gegenüber den Kindern während vieler Jahre. Infolgedessen maßen
sich die Eltern während der Kinderzeit der Kinder das Alleinrecht
an, die Familie zu repräsentieren, nicht nur nach außen, sondern
auch in der inneren geistigen Organisation, nehmen also dadurch den Kindern
das Persönlichkeitsrecht Schritt für Schritt und können
sie von da aus unfähig machen, jemals dieses Recht in guter Art geltend
zu machen, ein Unglück, das die Eltern später nicht viel weniger
schwer treffen kann als die Kinder.
Der wesentliche Unterschied zwischen wirklicher Erziehung und Familienerziehung
ist: die erstere ist eine menschliche Angelegenheit, die zweite eine Familienangelegenheit.
In der Menschheit hat jeder Mensch Platz oder zumindest die Möglichkeit
auf seine Art zugrundezugehn, in der von den Eltern umklammerten Familie
aber haben nur ganz bestimmte Menschen Platz, die ganz bestimmten Forderungen
und überdies noch den von den Eltern diktierten Terminen entsprechen.
Entsprechen sie nicht, werden sie nicht etwa ausgestoßen - das wäre
sehr schön, ist aber unmöglich, denn es handelt sich ja um einen
Organismus -, sondern verflucht oder verzehrt oder beides. Dieses Verzehren
geschieht nicht körperlich wie bei dem alten Elternvorbild in der
griechischen Mythologie (Kronos, der seine Söhne auffraß, -
der ehrlichste Vater), aber vielleicht hat Kronos seine Methode der sonst
üblichen gerade aus Mitleid mit seinen Kindern vorgezogen.
Der Eigennutz der Eltern - das eigentliche Elterngefühl - kennt ja
keine Grenzen. Noch die größte Liebe der Eltern ist im Erziehungssinn
eigennütziger als die kleinste Liebe des bezahlten Erziehers. Es ist
nicht anders möglich. Die Eltern stehe ja ihren Kindern nicht frei
gegenüber, wie sonst ein Erwachsener dem Kind gegenübersteht,
es ist doch das eigene Blut - noch eine schwere Komplikation: das Blut
beider Elternteile. Wenn der Vater (bei der Mutter ist es entsprechend)
"erzieht", findet er z. B. in dem Kind Dinge, die er schon
in sich gehaßt hat und nicht überwinden konnte und die er jetzt
bestimmt zu überwinden hofft, denn das schwache Kind scheint ja mehr
in seiner Macht als er selbst, und so greift er blindwütend, ohne
die Entwicklung abzuwarten, in den werdenden Menschen, oder er erkennt
z. B. mit Schrecken, dass etwas, was er als eigene Auszeichnung ansieht
und was daher (daher!) in der Familie (in der Familie!) nicht fehlen darf,
in dem Kinde fehlt, und so fängt er an, es ihm einzuhämmern,
was ihm auch gelingt, aber gleichzeitig mißlingt, denn er zerhämmert
dabei das Kind, oder er findet z. B. in dem Kind Dinge, die er in der Ehefrau
geliebt hat, aber in dem Kinde (das er unaufhörlich mit sich selbst
verwechselt, alle Eltern tun das) haßt, so wie man z. B. die himmelblauen
Augen seiner Ehefrau sehr lieben kann, aber aufs höchste angewidert
wäre, wenn man plötzlich selbst solche Augen bekäme, oder
er findet z. B. in dem Kind Dinge, die er in sich liebt oder ersehnt und
für familiennotwendig hält, dann ist ihm alles andere an dem
Kinde gleichgültig, er sieht in dem Kind nur das Geliebte, er hängt
sich an das Geliebte, er erniedrigt sich zu seinem Sklaven, er verzehrt
es aus Liebe.
Das sind, aus Eigennutz geboren, die zwei Erziehungsmittel der Eltern:
Tyrannei und Sklaverei in allen Abstufungen, wobei sich die Tyrannei sehr
zart äußern kann ("Du mußt mir glauben, denn ich
bin deine Mutter!") und die Sklaverei sehr stolz ("Du bist
mein Sohn, deshalb werde ich dich zu meinem Retter machen"), aber
es sind zwei schreckliche Erziehungsmittel, zwei Antierziehungsmittel,
geeignet, das Kind in den Boden, aus dem es kam, zurückzustampfen.
Die Eltern haben eben für die Kinder nur die tierische, sinnlose,
sich mit dem Kinde immerfort verwechselnde Liebe, der Erzieher hat für
das Kind Achtung, und das ist im Erziehungssinn unvergleichbar mehr, selbst
wenn keine Liebe mitsprechen sollte. Ich wiederhole: im Erziehungssinn;
denn wenn ich die Elternliebe eine tierisch sinnlose nenne, so ist das
an sich keine Minderbewertung, sie ist ein ebenso unerforschliches Geheimnis
wie die sinnvoll schöpferische Liebe des Erziehers, nur in Hinsicht
der Erziehung allerdings kann diese Minderbewertung gar nicht groß
genug sein. Wenn sich N. eine Henne nennt, so hat sie ganz recht, jede
Mutter ist es im Grunde, und die, welche es nicht ist, ist entweder eine
Göttin oder aber wahrscheinlich ein krankes Tier. Nun will aber diese
Henne N. nicht Hühnchen, sondern Menschen zu Kindern haben, darf also
ihre Kinder nicht allein erziehn.
Ich wiederhole: Swift will die Elternliebe nicht entwürdigen, er hält
sie sogar unter Umständen für stark genug, um die Kinder vor
eben dieser Elternliebe zu schützen. Eine Mutter, die in irgendeinem
Gedicht ihr Kind aus den Pranken des Löwen rettet, sollte dieses Kind
nicht vor ihren eigenen Händen schützen können? Und tut
sie es denn ohne Lohn oder, was richtiger ist, ohne die Möglichkeit
eines Lohnes? In einem andern Schullesebuchgedicht, das Du gewiß
kennst, heißt es von dem Wanderer, der nach vielen Jahren in das
Heimatdorf zurückkommt und den niemand mehr erkennt außer der
Mutter: "das Mutteraug hat ihn doch erkannt". Das ist das wirkliche
Wunder der Mutterliebe und eine grolle Weisheit ist hier ausgedrückt,
aber nur eine halbe, denn es fehlt die Hinzufügung, dass, wenn
der Sohn zu Hause geblieben wäre, sie ihm niemals erkannt hätte,
dass das tägliche Zusammensitzen mit dem Sohn ihr ihn völlig
unkenntlich gemacht hätte und dass dann das Gegenteil des Gedichts
geschehen wäre und jeder andere ihn besser erkannt hätte als
sie. (Freilich hätte sie ihn dann auch gar nicht erkennen brauchen,
denn er wäre niemals zu ihr zurückgekommen.) Du wirst vielleicht
sagen, dass der Wanderer erst nach dem elften Lebensjahr in die Welt
gegangen ist, ich aber weiß ganz bestimmt, dass ihm noch ein
paar Monate zum zehnten Jahr gefehlt haben, oder anders ausgedrückt,
dass es keine Mutter war, die habsüchtig die Verantwortung tragen
wollte, habsüchtig die Freuden und, was vielleicht noch schlimmer
ist, die Schmerzen teilen wollte (nichts soll er ganz haben!), keine Mutter,
die Veranstaltungen getroffen hatte, um von ihrem Sohn gerettet zu werden,
die also zu ihm Vertrauen hatte (Mißtrauen ist pragerisch, übrigens
ist Vertrauen und Mißtrauen gleicher Weise in den Folgen riskant,
Mißtrauen aber überdies in sich selbst), und die gerade deshalb
gerettet wurde durch die Heimkehr ihres Sohnes. (Dabei war ja vielleicht
von allem Anfang an ihre Gefahr nicht so unmäßig groß,
denn es war keine Prager Judenfrau, sondern irgendeine fromme Katholikin
aus der Steiermark.)
Was ist also zu tun? Nach Swift sind die Kinder den Eltern fortzunehmen,
d. h. der Ausgleich, den jenes "Familientier" braucht, soll
zunächst provisorisch dadurch erreicht werden, dass man durch
Wegnahme der Kinder die endgültige Ausgleichung auf eine Zeit verschiebt,
bis die Kinder, von den Eltern unabhängig, an Körper und Geisteskraft
ihnen ebenbürtig sind und dann die Zeit für den wirklichen, für
den liebenden Ausgleich gekommen ist, nämlich das, was Du "Rettung"
nennst und was andere "Dankbarkeit der Kinder" nennen und so
selten finden.
Übrigens versteht Swift einzuschränken und hält die Wegnahme
der Kinder armer Leute nicht für unbedingt notwendig. Bei armen Leuten
dringt nämlich gewissermaßen die Welt, das Arbeitsleben von
selbst unhinderbar in die Hütte (so wie z. B. bei der Geburt Christi
in der halboffenen Hütte gleich die ganze Welt dabei war, die Hirten
und die Weisen aus dem Morgenlande) und läßt nicht die dumpfe,
giftreiche, kinderauszehrende Luft des schön eingerichteten Familienzimmers
entstehn.
Auch leugnet natürlich Swift nicht, dass Eltern unter Umständen
eine ausgezeichnete Erziehungsgemeinschaft darstellen können, aber
nur für fremde Kinder. So also etwa lese ich die Swiftsche Stelle.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at