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An Elli Hermann

[Herbst 1921]
 

Liebe Elli, nein, Energie ist das nicht, laß Dich dadurch weder erschrecken (so als ob ich Dir durch Energie etwas gegen Deinen Willen abzwingen könnte), noch ermutigen (so als ob ich den Dir fehlenden Willen, Felix wegzuschicken, den Willen, den Du gern hättest und der Dir fehlt, als ob ich durch Energie diesen Willen ersetzen könnte), es ist keine Energie, höchstens Energie in Worten und auch diese wird aufhören, hört sogar schon auf, Energie ist es nicht, eher ist es das, was Du erstaunlich gut fühlst, aber unrichtig deutest, wenn Du schreibst, dass auch Du aus "unserem Milieu" heraus willst und deshalb (deshalb!) Felix nicht wegschicken kannst. Du willst aus unserem Milieu hinaus und dies mit Hilfe des Felix, beides ist gut und möglich, Kinder sind zur Rettung der Eltern da, theoretisch verstehe ich gar nicht, wie es Menschen ohne Kinder geben kann, aber wie willst Du dieses "Hinauskommen" erreichen? Eben durch eine typische Tat gerade dieses Milieus, durch Geiz (ich gebe ihn nicht fort!), durch Verzweiflung (was wäre ich ohne ihn!), durch Hoffnungslosigkeit (er wird nicht mehr mein Sohn sein!), durch Sich-selbst-Belügen, durch Scheingründe, durch Verschönerung der Schwäche, durch Verschönerung des "Milieus" ("Leben erträglich machen", Verantwortung tragen", "selbst aus der Entfernung kann das Beispiel solcher Mütter" u. s. f.) Das alles täte ich an Deiner Stelle natürlich auch und noch viel "großartiger".

Aus der Geschichte der "Aufklärung" lese ich außer dem Schönen und Rührenden, das in ihr ist, noch Folgendes heraus: Erstens: Du bist zu spät gekommen, 2. Felix ist mit der Geschichte des Prager Jungen nicht zu Dir gekommen, 3. Auch über Věra hat er Dich nicht ausgefragt, sondern verhört, denn die Erklärung des Jungen besaß er ja. 4. Du konntest als Erklärung natürlich nur ein Abstraktum verwenden, die Liebe. Schon das ist schlimm (der Vorteil der Storchgeschichte ist ja ihre, überdies nicht nachzuprüfende und ziemlich ferne Realität), noch schlimmer ist, dass dieses Abstraktum neben die für den Jungen fürchterlich überraschende Realität der Schwangerschaft gestellt ist. Gut, Du lügst nicht, nur verschweigt er außerdem auch nichts. 5. Sehr gut war Deine Bemerkung, alles könne man, wenn man wolle, lächerlich und schlecht machen. Leider kann man das aber nicht nur durch Worte machen, sondern auch durch Taten und das schlecht gemachte Gute schaut dem Auerschlechtesten dann zum Verwechseln ähnlich. Was bleibt dann von Deiner Bemerkung? Und hat der Brüxer Junge in seinem Umkreis nicht Recht? 6. Du hast dann einen Zusammenhang hergestellt zwischen Deiner Erklärung und jener der Jungen, es würde mich interessieren, wie Du das gemacht hast, aber an und für sich kann das ja nicht schwer sein, jeder macht das notgedrungen in seinem Leben irgendwie. Ich rede nicht von den Frauen, aber in allen Männern ringsherum steckt doch der Brüxer Junge, nur dass die Gemeinschaft bei dem Jungen, auf welche Art sie sich auch zeigen mag, immerhin geheiligt ist durch die Scheu vor den ihm übergeordneten Dingen und durch den Erkenntnisdrang. Darum bin ich auf Seite des Jungen gegenüber den Männern und in gewissem Sinn auch gegenüber Deiner Aufklärung, denn nur der Junge ist der unbestechliche Wahrheitssucher und der rücksichtslose Vermittler und hinsichtlich dessen, was ihm noch an Wissen und Erfahrung fehlt, kann man zu ihm das Vertrauen haben, dass er das Fehlende kraft der ihm innewohnenden Gemeinheit, denn er ist ja Blut vom Blute der andern, annähernd richtig erfühlt.

Sieh z. B. die zwei Jungen, die mich belehrt haben, sie wissen heute gewiß nicht mehr als damals, allerdings waren es, wie sich gezeigt hat, besonders einheitliche konsequente Charaktere. Sie belehrten mich gleichzeitig, der eine von rechts, der andere von links, der rechte lustig, väterlich, weltmännisch, mit einem Lachen, das ich später bei Männern aller Lebensalter, auch bei mir, genau so gehört habe (es gibt gewiß auch ein freies, ein anderes Lachen über den Dingen, von einem Lebenden habe ich es aber noch nicht gehört), der linke sachlich, theoretisch, das war viel abscheulicher. Beide haben längst geheiratet und sind in Prag geblieben, der rechte ist schon viele Jahre von Syphilis bis zur Unkenntlichkeit zerstört, ich weiß nicht, ob er noch lebt, der linke ist Professor für Geschlechtskrankheiten und Gründer und Vorsitzender eines Vereines zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. Gegeneinander abschätzen will ich sie nicht, übrigens waren sie nicht etwa Freunde, damals sind sie nur zufällig zwecks meiner Belehrung zusammengekommen.

Aber verhältnismäßig ist ja das alles ziemlich unwesentlich, Deine Aufklärung und die des Jungen. Es kommt nur darauf an, wie er selbst, wenn sein Körper sich zu rühren anfängt, sich entscheiden wird. Ich denke dabei nicht an bestimmte Taten oder Unterlassungen, sondern an den Geist, der ihn führen wird. Und er wird sich im allgemeinen, wenn nicht übermenschlich starke Anlagen eingreifen, so entscheiden, wie sein Leben bis dahin gewesen ist. Ist sein Leben übersättigt, geistig und körperlich weich gebettet, großstädtisch überreizt, glaubenslos und gelangweilt gewesen, dann wird er sich entsprechend entscheiden, und wenn Du die ganze Zeit über jeden Augenblick, was ja zeitlich und geistig unmöglich ist, mit liebenden Ermahnungen hinter ihm her bist. Du kannst ja z. B. nicht einmal das scheinbar Leichteste tun, nämlich die Langweile, diese Einbruchsstelle aller bösen Geister, verhindern. Das hast Du selbst zugestanden und ich habe ihn ja auch in Zuständen gesehn, die in dieser Hinsicht trostlos waren. Diese Zustände müssen aber von Jahr zu Jahr schlimmer und gefährlicher werden, weil sie für ihn und Dich unkenntlicher werden. In der Kinderzeit waren sie undeutlich und man konnte zur Not etwas dagegen tun, allmählich aber schauen gerade die Zustände (im geistigen Sinn) schlimmster Langweile wie allerbeste Unterhaltung aus, er liest, er lernt Musik, er spielt Fußball, alles das muß nicht, aber kann entsetzliche Langweile und Führungslosigkeit enthalten, an sich weder ihm noch andern, aber in den Folgen erkennbar.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at