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An Milena Jesenská

[Prag, 18. Juli 1920]
Sonntag
 

Noch zu dem Gestrigen:

Auf Deinen Brief hin versuche ich das Ganze von einer Seite anzusehn, von der es anzusehn ich mich bisher meist gehütet habe. Es sieht von da merkwürdig aus:

Ich kämpfe ja nicht mit Deinem Mann um Dich, der Kampf geschieht nur in Dir; wenn die Entscheidung von einem Kampf zwischen Deinem Mann und mir abhängen würde, wäre alles längst entschieden. Ich überschätze dabei Deinen Mann gar nicht, sehr wahrscheinlich unterschätze ich ihn sogar, das aber weiß ich: wenn er mich liebt, so ist es die Liebe des reichen Mannes zur Armut (wovon ja auch in Deinem Verhältnis zu mir etwas ist). In der Atmosphäre Deines Zusammenlebens mit ihm bin ich wirklich nur die Maus im "großen Haushalt" der man höchstens einmal im Jahr erlauben kann, offen quer über den Teppich zu laufen.

So ist es und das ist nicht merkwürdig, darüber staune ich nicht. Darüber aber staune ich und es ist wahrscheinlich ganz unverständlich, dass Du, die Du in diesem "großen Haushalt" lebst, mit allen Sinnen ihm angehörst, Dein stärkstes Leben aus ihm ziehst, eine große Königin dort bist, trotzdem -das weiß ich genau - die Möglichkeiten hast (aber eben nur deshalb weil Du alles kannst, já se přece, nezastavim ani před ani před - ani před -) [ich mache doch nicht einmal Halt vor - nicht einmal vor - nicht einmal vor -]

nicht nur mich lieb zu haben, sondern mein zu sein, über Deinen eigenen Teppich zu laufen.

Aber das ist noch nicht der Höhepunkt des Erstaunlichen. Der besteht darin, dass Du, wenn Du zu mir gehen wolltest, wenn Du also-musikalisch beurteiltdie ganze Welt aufgeben wolltest, um zu mir herunterzukommen so tief, dass man von Dir aus gesehn nicht nur wenig, sondern überhaupt nichts mehr sieht, Du zu diesem Zweck - merkwürdiger, merkwürdiger Weise! - nicht hinuntersteigen, sondern in übermenschlicher Art hoch über Dich, über Dich hinausgreifen müßtest, so stark, dass Du vielleicht dabei zerreißen, stürzen, verschwinden müßtest (und ich dann allerdings mit Dir). Und das um an einen Ort zu kommen, zu dem nichts verlockt, wo ich sitze ohne Glück und Unglück, ohne Verdienst und Schuld, nur weil man mich dort hingesetzt hat. In der Stufenleiter der Menschheit bin ich etwa ein Vorkriegs-Greisler in Deinen Vorstädten (nicht einmal ein Spielmann, nicht einmal das), selbst wenn ich mir diese Stelle erkämpft hätte -aber ich habe sie mir nicht erkämpft - wäre es kein Verdienst.


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Äußerst deutlich ist, was Du von den Wurzeln schreibst, so ist es gewiß. In Turnau allerdings war die Hauptaufgabe, zuerst alle Nebenwurzeln zu finden und zu beseitigen, hatte man dann nur den Hauptstrunk, war die eigentliche Arbeit fertig, denn nun hieb man mit dem Spaten diese Wurzel nur an und riß das Ganze heraus. Ich habe noch den Klang im Ohr wie es knackte. Allerdings konnte man dort gut reißen, denn es war ein Baum von dem man wußte, dass er auch in anderer Erde gut weiterwachsen wird und außerdem war es ja noch kein Baum sondern ein Kind.


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Mit Jarmila im allgemeinen zu sprechen habe ich gar keine Lust. Nur wenn Du einen bestimmten Auftrag hättest, an dem Dir besonders gelegen wäre, würde ich natürlich sofort hingehn.


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Mit Laurin sprach ich gestern wieder. Wir sind ja hinsichtlich seiner ganz einig. Es spricht doch manches für ihn, z. B. dass er, wenn er von Dir spricht, sich ein wenig zusammennimmt, ja, er hat doch einen guten Kern. Was er mir erzählt hat? Ich war also zweimal mit ihm beisammen und in der Hauptsache hat er mir jedes Mal mit vielen Nebenumständen die gleiche Geschichte erzählt. Ein Mädchen, die Braut eines andern, kommt zu ihm, sitzt trotz seines äußersten Widerwillens 8-10 Stunden bei ihm (das eine Mädchen in seiner Privatwohnung am Vormittag, das andere in der Redaktion bei Nacht, so verteilt er die Lichter), erklärt dass sie ihn unbedingt haben muß und dass sie wenn er sich weigert aus dem Fenster springen wird. Er weigert sich tatsächlich, gibt aber dafür das Fenster frei. Nun springen die Mädchen zwar nicht hinaus, aber es geschieht etwas Schreckliches, das eine Mädchen bekommt Schreikrämpfe, das andere Mädchen bekommt - das habe ich schon vergessen. Nun noch, wer die Mädchen sind. Das eine (in der Wohnung) war Jarmila vor der Hochzeit, das andere in der Redaktion seine seit Donnerstag ihm angetraute Frau (von ihr hat er natürlich etwas zarter gesprochen, aber nicht viel, denn er spricht ja in gewissem Sinn immer zart). Nun leugne ich nicht, dass alles in Wirklichkeit sich genau so oder noch schlimmer ereignet hat, ich verstehe nur nicht, warum es so langweilig ist.

Eine hübsche Stelle war übrigens in den Erzählungen von seiner Braut. Ihr Vater hat zwei Jahre an Melancholie gelitten, sie hat ihn gepflegt. Im Krankenzimmer mußte das Fenster immer offen stehn, mußte aber, wenn unten ein Wagen vorüberfuhr, schnell für einen Augenblick geschlossen werden, denn den Lärm vertrug der Vater nicht. Dieses Schließen besorgte nun die Tochter. Als Laurin das erzählte fügte er hinzu: Denken Sie, eine Kunsthistorikerin! " (Sie ist nämlich eine Kunsthistorikerin.)

Er zeigte mir auch ihr Bild. Ein wahrscheinlich schönes melancholisches Judengesicht, gepreßte Nase, schwere Augen, zarte lange Hände, teueres Kleid.


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Du fragst nach dem Mädchen, ich weiß von ihr nichts neues. Seitdem sie mir damals den Brief für Dich gab, habe ich sie nicht mehr gesehn. Ich hatte zwar damals eine Verabredung mit ihr, es kamen aber gerade Deine ersten Briefe über die Gespräche mit Deinem Mann, ich fühlte mich nicht fähig mit ihr zu sprechen und sagte ihr ab mit wahrheitsgemäßer Begründung, aber so freundlich, als ich es meinte. Später schrieb ich ihr dann noch einen Zettel, sie mißverstand ihn aber offenbar, denn ich bekam von ihr einen lehrhaften mütterlichen Brief (worin sie mich unter anderem um die Adresse Deines Mannes bat), ich antwortete ihr entsprechend, sofort mit Rohrpostbrief, es ist schon über eine Woche her, seitdem habe ich nichts mehr von ihr gehört, weiß also noch nicht was Du ihr geschrieben hast und wie es auf sie gewirkt hat.

Ich weiß Deine Antwort, ich möchte sie aber geschrieben sehn.[am linken Rand der Seite]


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Du schreibst dass Du vielleicht nächsten Monat nach Prag kommst. Fast möchte ich Dich bitten: komme nicht. Laß mir die Hoffnung, dass Du, wenn ich Dich einmal in äußerster Not bitten werde zu kommen, gleich kommen wirst, jetzt aber komme lieber nicht, Du müßtest ja wieder wegfahren.


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Was die Bettlerin betrifft, so war dabei gewiß weder etwas Gutes noch etwas Schlechtes, ich war einfach zu sehr zerstreut oder zu sehr mit einem beschäftigt, als dass ich meine Handlungen anders hätte einrichten können, als nach vagen Erinnerungen. Und eine solche Erinnerung sagt z. B.: " Gib Bettlerin nicht zuviel, später reut es Dich." Ich hatte einmal als ganz kleiner Junge ein Sechserl bekommen und hatte große Lust es einer alten Bettlerin zu geben, die zwischen dem großen und dem kleinen Ring saß. Nun schien mir aber die Summe ungeheuer, eine Summe die wahrscheinlich noch niemals einem Bettler gegeben worden ist, ich schämte mich deshalb vor der Bettlerin etwas so Ungeheuerliches zu tun. Geben aber mußte ich es ihr doch, ich wechselte deshalb das Sechserl, gab der Bettlerin einen Kreuzer, umlief den ganzen Komplex des Rathauses und des Laubenganges am kleinen Ring, kam als ein ganz neuer Wohltäter links heraus, gab der Bettlerin wieder einen Kreuzer, fing wieder zu laufen an und machte das glücklich zehnmal (Oder auch etwas weniger, denn, ich glaube die Bettlerin verlor dann später die Geduld und verschwand mir). Jedenfalls war ich zum Schluß, auch moralisch, so erschöpft, dass ich gleich nach Hause lief und so lange weinte, bis mir die Mutter das Sechserl wieder ersetzte.

Du siehst, ich habe Unglück mit Bettlern, doch erkläre ich mich bereit mein ganzes gegenwärtiges und künftiges Vermögen in kleinsten Wiener Kassenscheinen dort bei der Oper langsam einer Bettlerin auszuzahlen unter der Voraussetzung dass Du dabei stehst und ich (. . .)[mehrere Wörter unleserlich gemacht] Deine Nähe fühlen darf.

Franz          




1] Turnau: In der südlich von Reichenberg liegenden Ortschaft hatte sich Kafka in der zweiten Septemberhälfte 1918 zur Erholung aufgehalten und mit Gartenarbeit beschäftigt. Vgl. "Briefe", S.243-245


2] ihm angetraute Frau: Arne Laurin-Lustig, der stellvertretende Chefredakteur der "Tribuna", gab am 15. Juli 1920 in dieser Zeitung seine Vermählung mit Olga Weis bekannt.


3] nach dem Mädchen: Julie Wohryzek, vgl. Brief vom [31 Mai 1920], Anm. 3.


4] die Bettlerin: Milena hatte sich offenbar auf eine Episode während der gemeinsamen vier Tage in Wien bezogen: Kafka hatte einer Bettlerin in der Nähe der Oper eine Zwei-Kronen-Münze gegeben, wollte aber eine Krone zurückhaben. Die Bettlerin sagte, sie habe kein Geld, könne daher nicht herausgeben. In ihrem 3. Brief an Max Brod [Anfang August 1920] erzählt Milena diese Begebenheit. Vgl. S. 364.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at