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An Milena Jesenská
Noch zu dem Gestrigen:
Auf Deinen Brief hin versuche ich das Ganze von einer Seite anzusehn, von
der es anzusehn ich mich bisher meist gehütet habe. Es sieht von da
merkwürdig aus:
Ich kämpfe ja nicht mit Deinem Mann um Dich, der Kampf geschieht nur
in Dir; wenn die Entscheidung von einem Kampf zwischen Deinem Mann und
mir abhängen würde, wäre alles längst entschieden.
Ich überschätze dabei Deinen Mann gar nicht, sehr wahrscheinlich
unterschätze ich ihn sogar, das aber weiß ich: wenn er mich
liebt, so ist es die Liebe des reichen Mannes zur Armut (wovon ja auch
in Deinem Verhältnis zu mir etwas ist). In der Atmosphäre Deines
Zusammenlebens mit ihm bin ich wirklich nur die Maus im "großen
Haushalt" der man höchstens einmal im Jahr erlauben kann, offen
quer über den Teppich zu laufen.
So ist es und das ist nicht merkwürdig, darüber staune ich nicht.
Darüber aber staune ich und es ist wahrscheinlich ganz unverständlich,
dass Du, die Du in diesem "großen Haushalt" lebst,
mit allen Sinnen ihm angehörst, Dein stärkstes Leben aus ihm
ziehst, eine große Königin dort bist, trotzdem -das weiß
ich genau - die Möglichkeiten hast (aber eben nur deshalb weil Du
alles kannst, já se přece, nezastavim ani před ani před
- ani před -) [ich mache doch nicht einmal Halt vor - nicht einmal
vor - nicht einmal vor -]
nicht nur mich lieb zu haben, sondern mein zu sein, über Deinen eigenen
Teppich zu laufen.
Aber das ist noch nicht der Höhepunkt des Erstaunlichen. Der besteht
darin, dass Du, wenn Du zu mir gehen wolltest, wenn Du also-musikalisch
beurteiltdie ganze Welt aufgeben wolltest, um zu mir herunterzukommen so
tief, dass man von Dir aus gesehn nicht nur wenig, sondern überhaupt
nichts mehr sieht, Du zu diesem Zweck - merkwürdiger, merkwürdiger
Weise! - nicht hinuntersteigen, sondern in übermenschlicher Art hoch
über Dich, über Dich hinausgreifen müßtest,
so stark, dass Du vielleicht dabei zerreißen, stürzen,
verschwinden müßtest (und ich dann allerdings mit Dir). Und
das um an einen Ort zu kommen, zu dem nichts verlockt, wo ich sitze ohne
Glück und Unglück, ohne Verdienst und Schuld, nur weil man mich
dort hingesetzt hat. In der Stufenleiter der Menschheit bin ich etwa ein
Vorkriegs-Greisler in Deinen Vorstädten (nicht einmal ein Spielmann,
nicht einmal das), selbst wenn ich mir diese Stelle erkämpft hätte
-aber ich habe sie mir nicht erkämpft - wäre es kein Verdienst.
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Äußerst deutlich ist, was Du von den Wurzeln schreibst, so ist
es gewiß. In Turnau allerdings war die Hauptaufgabe,
zuerst alle Nebenwurzeln zu finden und zu beseitigen, hatte man dann nur
den Hauptstrunk, war die eigentliche Arbeit fertig, denn nun hieb man mit
dem Spaten diese Wurzel nur an und riß das Ganze heraus. Ich habe
noch den Klang im Ohr wie es knackte. Allerdings konnte man dort gut reißen,
denn es war ein Baum von dem man wußte, dass er auch in anderer
Erde gut weiterwachsen wird und außerdem war es ja noch kein Baum
sondern ein Kind.
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Mit Jarmila im allgemeinen zu sprechen habe ich gar keine Lust. Nur wenn
Du einen bestimmten Auftrag hättest, an dem Dir besonders gelegen
wäre, würde ich natürlich sofort hingehn.
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Mit Laurin sprach ich gestern wieder. Wir sind ja hinsichtlich seiner ganz
einig. Es spricht doch manches für ihn, z. B. dass er, wenn er
von Dir spricht, sich ein wenig zusammennimmt, ja, er hat doch einen guten
Kern. Was er mir erzählt hat? Ich war also zweimal mit ihm beisammen
und in der Hauptsache hat er mir jedes Mal mit vielen Nebenumständen
die gleiche Geschichte erzählt. Ein Mädchen, die Braut eines
andern, kommt zu ihm, sitzt trotz seines äußersten Widerwillens
8-10 Stunden bei ihm (das eine Mädchen in seiner Privatwohnung am
Vormittag, das andere in der Redaktion bei Nacht, so verteilt er die Lichter),
erklärt dass sie ihn unbedingt haben muß und dass
sie wenn er sich weigert aus dem Fenster springen wird. Er weigert sich
tatsächlich, gibt aber dafür das Fenster frei. Nun springen die
Mädchen zwar nicht hinaus, aber es geschieht etwas Schreckliches,
das eine Mädchen bekommt Schreikrämpfe, das andere Mädchen
bekommt - das habe ich schon vergessen. Nun noch, wer die Mädchen
sind. Das eine (in der Wohnung) war Jarmila vor der Hochzeit, das andere
in der Redaktion seine seit Donnerstag ihm angetraute Frau
(von ihr hat er natürlich etwas zarter gesprochen, aber nicht viel,
denn er spricht ja in gewissem Sinn immer zart). Nun leugne ich nicht,
dass alles in Wirklichkeit sich genau so oder noch schlimmer ereignet
hat, ich verstehe nur nicht, warum es so langweilig ist.
Eine hübsche Stelle war übrigens in den Erzählungen von
seiner Braut. Ihr Vater hat zwei Jahre an Melancholie gelitten, sie hat
ihn gepflegt. Im Krankenzimmer mußte das Fenster immer offen stehn,
mußte aber, wenn unten ein Wagen vorüberfuhr, schnell für
einen Augenblick geschlossen werden, denn den Lärm vertrug der Vater
nicht. Dieses Schließen besorgte nun die Tochter. Als Laurin das
erzählte fügte er hinzu: Denken Sie, eine Kunsthistorikerin!
" (Sie ist nämlich eine Kunsthistorikerin.)
Er zeigte mir auch ihr Bild. Ein wahrscheinlich schönes melancholisches
Judengesicht, gepreßte Nase, schwere Augen, zarte lange Hände,
teueres Kleid.
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Du fragst nach dem Mädchen, ich weiß von ihr
nichts neues. Seitdem sie mir damals den Brief für Dich gab, habe
ich sie nicht mehr gesehn. Ich hatte zwar damals eine Verabredung mit ihr,
es kamen aber gerade Deine ersten Briefe über die Gespräche mit
Deinem Mann, ich fühlte mich nicht fähig mit ihr zu sprechen
und sagte ihr ab mit wahrheitsgemäßer Begründung, aber
so freundlich, als ich es meinte. Später schrieb ich ihr dann noch
einen Zettel, sie mißverstand ihn aber offenbar, denn ich
bekam von ihr einen lehrhaften mütterlichen Brief (worin sie mich
unter anderem um die Adresse Deines Mannes bat), ich antwortete ihr entsprechend,
sofort mit Rohrpostbrief, es ist schon über eine Woche her, seitdem
habe ich nichts mehr von ihr gehört, weiß also noch nicht was
Du ihr geschrieben hast und wie es auf sie gewirkt hat.
Ich weiß Deine Antwort, ich möchte sie aber geschrieben sehn.[am
linken Rand der Seite]
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Du schreibst dass Du vielleicht nächsten Monat nach Prag kommst.
Fast möchte ich Dich bitten: komme nicht. Laß mir die Hoffnung,
dass Du, wenn ich Dich einmal in äußerster Not bitten werde
zu kommen, gleich kommen wirst, jetzt aber komme lieber nicht, Du
müßtest ja wieder wegfahren.
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Was die Bettlerin betrifft, so war dabei gewiß weder
etwas Gutes noch etwas Schlechtes, ich war einfach zu sehr zerstreut oder
zu sehr mit einem beschäftigt, als dass ich meine Handlungen
anders hätte einrichten können, als nach vagen Erinnerungen.
Und eine solche Erinnerung sagt z. B.: " Gib Bettlerin nicht zuviel,
später reut es Dich." Ich hatte einmal als ganz kleiner Junge
ein Sechserl bekommen und hatte große Lust es einer alten Bettlerin
zu geben, die zwischen dem großen und dem kleinen Ring saß.
Nun schien mir aber die Summe ungeheuer, eine Summe die wahrscheinlich
noch niemals einem Bettler gegeben worden ist, ich schämte mich deshalb
vor der Bettlerin etwas so Ungeheuerliches zu tun. Geben aber mußte
ich es ihr doch, ich wechselte deshalb das Sechserl, gab der Bettlerin
einen Kreuzer, umlief den ganzen Komplex des Rathauses und des Laubenganges
am kleinen Ring, kam als ein ganz neuer Wohltäter links heraus, gab
der Bettlerin wieder einen Kreuzer, fing wieder zu laufen an und machte
das glücklich zehnmal (Oder auch etwas weniger, denn, ich glaube die
Bettlerin verlor dann später die Geduld und verschwand mir). Jedenfalls
war ich zum Schluß, auch moralisch, so erschöpft, dass
ich gleich nach Hause lief und so lange weinte, bis mir die Mutter das
Sechserl wieder ersetzte.
Du siehst, ich habe Unglück mit Bettlern, doch erkläre ich mich
bereit mein ganzes gegenwärtiges und künftiges Vermögen
in kleinsten Wiener Kassenscheinen dort bei der Oper langsam einer Bettlerin
auszuzahlen unter der Voraussetzung dass Du dabei stehst und ich (.
. .)[mehrere Wörter unleserlich gemacht] Deine Nähe fühlen
darf.
Franz
1] Turnau: In der südlich von Reichenberg liegenden
Ortschaft hatte sich Kafka in der zweiten Septemberhälfte 1918 zur
Erholung aufgehalten und mit Gartenarbeit beschäftigt. Vgl. "Briefe",
S.243-245
2] ihm angetraute Frau: Arne Laurin-Lustig, der
stellvertretende Chefredakteur der "Tribuna", gab am 15. Juli
1920 in dieser Zeitung seine Vermählung mit Olga Weis bekannt.
3] nach dem Mädchen: Julie Wohryzek, vgl. Brief
vom [31 Mai 1920], Anm. 3.
4] die Bettlerin: Milena hatte sich offenbar auf
eine Episode während der gemeinsamen vier Tage in Wien bezogen: Kafka
hatte einer Bettlerin in der Nähe der Oper eine Zwei-Kronen-Münze
gegeben, wollte aber eine Krone zurückhaben. Die Bettlerin sagte,
sie habe kein Geld, könne daher nicht herausgeben. In ihrem 3. Brief
an Max Brod [Anfang August 1920] erzählt Milena diese Begebenheit.
Vgl. S. 364.
Sonntag
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at