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An Milena Jesenská

[Prag, 17. Juli 1920]
Samstag
 

Ich habe ja gewußt, was in dem Brief stehen wird, es stand fast hinter allen Briefen, es stand in Deinen Augen - was würde nicht erkannt auf ihrem klaren Grunde? - es stand in den Falten auf Deiner Stirn, das habe ich ja gewußt, so wie einer der den ganzen Tag in irgendeiner Schlaf-Traum-Angst-Versunkenheit hinter geschlossenen Läden verbracht hat, abend das Fenster öffnet und natürlich gar nicht erstaunt ist und es gewußt hat, dass jetzt Dunkel ist, wunderbares tiefes Dunkel. Und ich sehe wie Du Dich quälst und windest und nicht loskommst und - werfen wir das Feuer in die Pulverkammer! - niemals loskommen wirst und ich sehe das und darf doch nicht sagen: Bleib, wo Du bist. Aber ich sage auch nicht das Gegenteil, ich stehe Dir gegenüber und schaue in die lieben armen Augen (es ist doch kläglich das Bild, das Du mir geschickt hast, eine Qual es anzusehn, eine Qual, der man sich 100 mal im Tag unterzieht und leider doch ein Besitz, den ich gegen 10 starke Männer zu verteidigen imstande wäre) und bin wirklich stark wie Du schreibst, eine gewisse Stärke habe ich, will man sie kurz und unklar bezeichnen, so ist es mein Unmusikalisch-Sein. So groß ist sie aber doch nicht, dass ich, wenigstens gleich jetzt weiterschreiben könnte. Irgendeine Flut von Leid und Liebe nimmt mich und trägt mich vom Schreiben fort.

F          

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at