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An Milena Jesenská
Du mißverstehst einiges Milena:
Erstens bin ich nicht gar so sehr krank und wenn ich ein wenig geschlafen
habe, ist mir sogar so wohl, wie mir in Meran kaum gewesen ist. Lungenkrankheiten
sind doch meistens die liebenswürdigsten von allen, gar in einem heißen
Sommer. Wie ich mit dem spätern Herbst fertig werde, ist ja auch erst
eine spätere Frage. Augenblicklich habe ich nur paar kleine Leiden
z. B. dass ich im Bureau nichts machen kann. Wenn ich nicht etwa Dir
schreibe, liege ich in meinem Lehnstuhl und schaue aus dem Fenster. Man
sieht viel genug, denn das gegenüberliegende Haus ist einstöckig.
Ich will nicht sagen dass mir beim Hinausschauen besonders trübselig
wäre, nein gar nicht, nur losreißen kann ich mich nicht davon.
Zweitens fehlt es mir gar nicht an Geld, ich habe übergenug, Teile
davon, z. B. das Geld für Deinen Urlaub, bedrücken mich geradezu,
dadurch dass sie noch daliegen.
Drittens hast Du zu meiner Gesundung schon ein für allemal das Entscheidende
getan und tust es außerdem jeden Augenblick von neuem, in dem Du
gut an mich denkst.
Viertens ist alles was Du leise zweifelnd über die Prager Reise sagst
ganz richtig. "Richtig" ich habe das auch telegraphiert, aber
dort bezog es sich auf das Sprechen mit Deinem Mann und das war allerdings
auch das einzig Richtige. Heute früh z. B. begann ich plötzlich
zu fürchten, in Liebe zu fürchten, herzbeklemmend
zu fürchten, Du könntest plötzlich durch irgendeine
zufällige Kleinigkeit irregeführt nach Prag kommen. Könnte
aber eine Kleinigkeit wirklich bei Dir entscheiden, die Du Dein Leben bis
in solche Tiefen wirklich lebendig lebst? Und selbst von den Wiener Tagen
dürftest Du Dich nicht irreführen lassen. Verdankten wir selbst
dort nicht manches vielleicht Deiner unbewußten Hoffnung ihn am Abend
wiedersehn zu können? Nichts mehr davon. Oder noch dieses: Zwei Tatsachenneuigkeiten
habe ich aus Deinem Brief letzthin erfahren: ersten den Heidelberger
Plan, zweitens den Paris- und Bank-Flucht-Plan, der erste zeigt mir
dass ich irgendwie doch in der Reihe der "Retter" und
Gewalttäter bin. Aber ich bin doch auch wieder nicht in der Reihe.
Der zweite zeigt mir, dass doch auch dort Zukunfts-Leben ist, Pläne,
Möglichkeiten, Aussichten, auch Deine Aussichten.
Fünftens besteht ein Teil Deiner fürchterlichen Selbstquälerei
- es ist das einzige Leid, das Du mir tust darin, dass Du mir
jeden Tag schreibst. Schreibe seltener, ich schreibe Dir, wenn Du willst
jeden Tag auch weiterhin einen Zettel. Du wirst auch mehr Ruhe zur Arbeit
haben, auf die Du Dich freust.
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Dank für die Donadieu. (Könnte ich Dir nicht
irgendwie die Bücher schicken?) Lesen werde ich sie augenblicklich
wohl kaum können, es ist ein zweites kleines Leid: ich kann nicht
lesen und wieder tut mir das gar nicht besonders weh, es ist bloß
eine Unmöglichkeit für mich. Ein großes Manuskript
von Max (Judentum, Christentum, Heidentum - ein großes Buch)
ist zu lesen, er drängt mich schon fast, ich habe es kaum angefangen;
heute bringt mir ein junger Dichter 75 Gedichte, manche
davon viele Seiten lang, ich werde mir ihn wieder verfeinden wie schon
einmal übrigens; den Claudelaufsatz habe ich damals
gleich gelesen, aber nur einmal und zu schnell, aber die Gier war weder
auf Claudel noch Rimbaud gerichtet, schreiben wollte ich darüber erst
bis ich es zum zweitenmal gelesen hätte, es ist bis heute nicht geschehn,
es hat mich aber schon sehr gefreut, dass Du gerade dieses - ist es
vollständig? - übersetzt hast (was ist das: pamatikální?
so heißt es doch dort, wenn ich mich recht erinnere) ganz klar in
der Erinnerung blieb mir aber nur in der ersten Spalte das Ave-Maria-Erlebnis
irgendeines Frommen.
Den Antwort-Brief des Mädchens, aus dem Du Dir ja
auch meinen Brief zusammensetzen kannst lege ich bei, damit Du siehst,
wie man mich abweist, nicht ohne Verstand. Ich antworte nicht mehr.
Der gestrige Nachmittag war nicht viel besser als der am letzten Sonntag.
Es fieng zwar sehr gut an; als ich aus dem Haus gierig, um zum Friedhof
zu gehn, war 36° im Schatten und die Elektrischen strikten, aber gerade,
das freute mich besonders, wie ich mich auf den Weg überhaupt fast
so freute, wie damals am Samstag auf den Weg zum Gärtchen neben der
Börse. Aber als ich dann auf den Friedhof kam, konnte ich das
Grab nicht finden, die Auskunftskanzlei war gesperrt, kein Diener,
keine Frau wußte etwas, auch in einem Buch sah ich nach aber es war
nicht das Richtige, stundenlang wanderte ich dort herum, ich war schon
ganz verwirrt von dem Lesen der Aufschriften und kam in einem ähnlichen
Zustand aus dem Friedhof (. . .)[ 3 oder 4 Wörter unleserlich gemacht
]
F
am linken Rand der ersten Briefseite (Beschriftung bis "Entscheidende
getan und"): Und außerdem sei ganz ruhig was mich betrifft, ich warte
am letzten Tag so wie am ersten.
1] Heidelberger Plan, . . . Paris- und Bank-Flucht-Plan:
Zwei der zahlreichen Pläne Ernst Pollaks, seine Stellung bei der Wiener
Bank aufzugeben.
2] Donadieu: Charles Louis Philippe, "Marie
Donadieu" (Paris: E. Fasquelle, 1904); möglicherweise schickte
Milena aber auch die deutsche Übersetzung des Romans, der in den "Gesammelten
Werken", hrsg. von Wilhelm Südel (Berlin: Egon Fleischel, 1913)
erschienen war.
3] Manuskript von Max: Max Brod, "Heidentum,
Christentum, Judentum. Ein Bekenntnisbuch". 2 Bde. (München:
Kurt Wolff, 1921).
4] ein junger Dichter: Vermutlich der von Gustav
Janoueh genannte Dichter Hans Klaus. Vgl. "Gespräche mit Kafka".
Erw. Ausgabe (Frankfurt: S. Fischer, 1968), S. 117-119.
5] Claudelaufsatz: Milenas Übersetzung von
Paul Claudels Aufsatz "Arthur Rimbaud" erschien in der "Tribuna",
II. Jg., Nr. 159 (8. 7. 1920), S. 1 f
6] pamatiální: Druckfehler in dem
erwähnten Aufsatz; recte: gramatikáná, also grammatikalisch
Der Druckfehler erklärt sich aus Milenas schwer leserlicher Handschrift,
die offenbar dem Setzer vorgelegen hat.
7] Antwort-Brief des Mädchens: Vgl. Brief vom
[31. Mai 1920], Anm. 3.
8] das Grab: Milena hatte ihn gebeten, auf dem Olschaner
Friedhof nach dem Grab ihres früh verstorbenen Bruders Jeníček
zu sehen.
Montag
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at