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An Milena Jesenská

[Prag, 19. Juli 1920]
Montag
 

Du mißverstehst einiges Milena:

Erstens bin ich nicht gar so sehr krank und wenn ich ein wenig geschlafen habe, ist mir sogar so wohl, wie mir in Meran kaum gewesen ist. Lungenkrankheiten sind doch meistens die liebenswürdigsten von allen, gar in einem heißen Sommer. Wie ich mit dem spätern Herbst fertig werde, ist ja auch erst eine spätere Frage. Augenblicklich habe ich nur paar kleine Leiden z. B. dass ich im Bureau nichts machen kann. Wenn ich nicht etwa Dir schreibe, liege ich in meinem Lehnstuhl und schaue aus dem Fenster. Man sieht viel genug, denn das gegenüberliegende Haus ist einstöckig. Ich will nicht sagen dass mir beim Hinausschauen besonders trübselig wäre, nein gar nicht, nur losreißen kann ich mich nicht davon.

Zweitens fehlt es mir gar nicht an Geld, ich habe übergenug, Teile davon, z. B. das Geld für Deinen Urlaub, bedrücken mich geradezu, dadurch dass sie noch daliegen.

Drittens hast Du zu meiner Gesundung schon ein für allemal das Entscheidende getan und tust es außerdem jeden Augenblick von neuem, in dem Du gut an mich denkst.

Viertens ist alles was Du leise zweifelnd über die Prager Reise sagst ganz richtig. "Richtig" ich habe das auch telegraphiert, aber dort bezog es sich auf das Sprechen mit Deinem Mann und das war allerdings auch das einzig Richtige. Heute früh z. B. begann ich plötzlich zu fürchten, in Liebe zu fürchten, herzbeklemmend zu fürchten, Du könntest plötzlich durch irgendeine zufällige Kleinigkeit irregeführt nach Prag kommen. Könnte aber eine Kleinigkeit wirklich bei Dir entscheiden, die Du Dein Leben bis in solche Tiefen wirklich lebendig lebst? Und selbst von den Wiener Tagen dürftest Du Dich nicht irreführen lassen. Verdankten wir selbst dort nicht manches vielleicht Deiner unbewußten Hoffnung ihn am Abend wiedersehn zu können? Nichts mehr davon. Oder noch dieses: Zwei Tatsachenneuigkeiten habe ich aus Deinem Brief letzthin erfahren: ersten den Heidelberger Plan, zweitens den Paris- und Bank-Flucht-Plan, der erste zeigt mir dass ich irgendwie doch in der Reihe der "Retter" und Gewalttäter bin. Aber ich bin doch auch wieder nicht in der Reihe. Der zweite zeigt mir, dass doch auch dort Zukunfts-Leben ist, Pläne, Möglichkeiten, Aussichten, auch Deine Aussichten.

Fünftens besteht ein Teil Deiner fürchterlichen Selbstquälerei - es ist das einzige Leid, das Du mir tust darin, dass Du mir jeden Tag schreibst. Schreibe seltener, ich schreibe Dir, wenn Du willst jeden Tag auch weiterhin einen Zettel. Du wirst auch mehr Ruhe zur Arbeit haben, auf die Du Dich freust.


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Dank für die Donadieu. (Könnte ich Dir nicht irgendwie die Bücher schicken?) Lesen werde ich sie augenblicklich wohl kaum können, es ist ein zweites kleines Leid: ich kann nicht lesen und wieder tut mir das gar nicht besonders weh, es ist bloß eine Unmöglichkeit für mich. Ein großes Manuskript von Max (Judentum, Christentum, Heidentum - ein großes Buch) ist zu lesen, er drängt mich schon fast, ich habe es kaum angefangen; heute bringt mir ein junger Dichter 75 Gedichte, manche davon viele Seiten lang, ich werde mir ihn wieder verfeinden wie schon einmal übrigens; den Claudelaufsatz habe ich damals gleich gelesen, aber nur einmal und zu schnell, aber die Gier war weder auf Claudel noch Rimbaud gerichtet, schreiben wollte ich darüber erst bis ich es zum zweitenmal gelesen hätte, es ist bis heute nicht geschehn, es hat mich aber schon sehr gefreut, dass Du gerade dieses - ist es vollständig? - übersetzt hast (was ist das: pamatikální? so heißt es doch dort, wenn ich mich recht erinnere) ganz klar in der Erinnerung blieb mir aber nur in der ersten Spalte das Ave-Maria-Erlebnis irgendeines Frommen.

Den Antwort-Brief des Mädchens, aus dem Du Dir ja auch meinen Brief zusammensetzen kannst lege ich bei, damit Du siehst, wie man mich abweist, nicht ohne Verstand. Ich antworte nicht mehr.

Der gestrige Nachmittag war nicht viel besser als der am letzten Sonntag. Es fieng zwar sehr gut an; als ich aus dem Haus gierig, um zum Friedhof zu gehn, war 36° im Schatten und die Elektrischen strikten, aber gerade, das freute mich besonders, wie ich mich auf den Weg überhaupt fast so freute, wie damals am Samstag auf den Weg zum Gärtchen neben der Börse. Aber als ich dann auf den Friedhof kam, konnte ich das Grab nicht finden, die Auskunftskanzlei war gesperrt, kein Diener, keine Frau wußte etwas, auch in einem Buch sah ich nach aber es war nicht das Richtige, stundenlang wanderte ich dort herum, ich war schon ganz verwirrt von dem Lesen der Aufschriften und kam in einem ähnlichen Zustand aus dem Friedhof (. . .)[ 3 oder 4 Wörter unleserlich gemacht ]

F          


am linken Rand der ersten Briefseite (Beschriftung bis "Entscheidende getan und"): Und außerdem sei ganz ruhig was mich betrifft, ich warte am letzten Tag so wie am ersten.




1] Heidelberger Plan, . . . Paris- und Bank-Flucht-Plan: Zwei der zahlreichen Pläne Ernst Pollaks, seine Stellung bei der Wiener Bank aufzugeben.


2] Donadieu: Charles Louis Philippe, "Marie Donadieu" (Paris: E. Fasquelle, 1904); möglicherweise schickte Milena aber auch die deutsche Übersetzung des Romans, der in den "Gesammelten Werken", hrsg. von Wilhelm Südel (Berlin: Egon Fleischel, 1913) erschienen war.


3] Manuskript von Max: Max Brod, "Heidentum, Christentum, Judentum. Ein Bekenntnisbuch". 2 Bde. (München: Kurt Wolff, 1921).


4] ein junger Dichter: Vermutlich der von Gustav Janoueh genannte Dichter Hans Klaus. Vgl. "Gespräche mit Kafka". Erw. Ausgabe (Frankfurt: S. Fischer, 1968), S. 117-119.


5] Claudelaufsatz: Milenas Übersetzung von Paul Claudels Aufsatz "Arthur Rimbaud" erschien in der "Tribuna", II. Jg., Nr. 159 (8. 7. 1920), S. 1 f


6] pamatiální: Druckfehler in dem erwähnten Aufsatz; recte: gramatikáná, also grammatikalisch Der Druckfehler erklärt sich aus Milenas schwer leserlicher Handschrift, die offenbar dem Setzer vorgelegen hat.


7] Antwort-Brief des Mädchens: Vgl. Brief vom [31. Mai 1920], Anm. 3.


8] das Grab: Milena hatte ihn gebeten, auf dem Olschaner Friedhof nach dem Grab ihres früh verstorbenen Bruders Jeníček zu sehen.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at